Völker, habt Ihr die Signale gehört? Zum Trendthema Internationalismus im Ostblock

Ausgabe 2/2024

Völker, habt Ihr die Signale gehört? Zum Trendthema Internationalismus im Ostblock

von Susanne Altmann

Es muss ungefähr in der vierten oder fünften Klasse gewesen sein, vermutlich 1975, als eines Tages die Mathematikstunde ausfiel, stattdessen die Fensterfront verdunkelt und ein Diaprojektor angeworfen wurde. Auftritt Herr Hentsch, der Vater unseres Klassenkamerads Jürgen. Gemeinhin war Jürgens Verhalten auffällig bis unverschämt, heute verkroch er sich verlegen in seiner Bank. Wir hatten keine Ahnung, dass Vater Hentsch die letzten Jahre als Ingenieur in Ägypten zugebracht hatte, mehr noch, am Bau des Assuanstaudamms unter sowjetischer Regie beteiligt war. Er zeigte uns Bilder von monumentalen Baumaßnahmen, erzählte von Turbinen und Wasserkraft, kurz: vom technischen Fortschritt.

Ähnliche Bilder kannten wir bereits aus dem Lehrstoff zur Sowjetunion – die Geschichten der gewaltigen Wasserkraftwerke an Wolga oder Jenissei, in denen sich eine neue geopolitische Macht materialisierte. Nun baute sich also Ägypten eine solche Anlage. Was heute gerne als sozialistisch gestimmte Kooperation mit dem, unter Präsident Nasser, blockfreien Land verklärt wird, war nichts weiter als eine Sparmaßnahme. Nachdem Großbritannien und die USA ihre Finanzierung zurückgezogen hatten, sprang Nikita Chruschtschow in die Bresche – die Ausweitung des Kommunismus auf die jungen Nationalstaaten Afrikas im Blick. Davon, und von der Beteiligung ostdeutscher Fachkräfte an derlei Projekten war öffentlich nie sehr viel zu hören, abgesehen von phrasenhaften Solidaritätsbekundungen. Sehr selten nahmen die Beziehungen zwischen dem nichtsozialistischen Ausland und der DDR persönliche, nicht offiziell gesteuerte Dimensionen an. Warum auch? Dass ich vermutlich niemals zu dem herrlichen, vor dem Nasser-Stausee in Sicherheit gebrachten Tempeln von Abu Simbel würde reisen können, war mir schon mit zehn Jahren klar. Während uns Ingenieur Hentsch die faszinierenden Bilder von der Zerlegung und Umsetzung der Bauwerke zeigte, erlaubte er uns einen kurzen Blick in eine sonst verschlossene Welt. Meine lebenslange Begeisterung für die Pharaonen muss aus dieser Unterrichtsstunde stammen.

Letzten Herbst, in Ljubljana, fühlte ich mich unversehens in diese Haltung des Staunens zurückversetzt. Auf der 35. Biennale der Grafischen Künste begegnete mir die Arbeit „Hochdamm (Konkrete Poesie)“ der 1974 geborenen Kuwaiterin Ala Younis. In einer kleinteiligen Wandinstallation erzählte Younis die Geschichte nicht nur des Staudamms von Assuan, sondern auch die der regionalen und globalen Auswirkungen: Zerstörung von Lebensumwelt, Umsiedlung von Bewohner*innen, Entstehung und Zerfall von Allianzen, das Schicksal der Altertümer wie auch damalige künstlerische Reflexionen des Projekts. Mit eigenen Zeichnungen und Notizen verknüpfte die Künstlerin historische Dokumente, Fotografien, Statistiken, technische und geologische Pläne. All diese Elemente ordnete sie innerhalb einer grafischen Karte der Anlage, die mit dicken, roten Markierungen wie das Signet des legendären Großprojekts wirkte. Unmittelbar neben Younis’ Beitrag hingen Porträts führender Unabhängigkeitspolitiker der Nachkriegszeit wie zum Trocknen auf einer Wäscheleine: wieder Nasser, dann Nkrumah, Castro, al-Gaddafi, Nehru u.a. Auch diese „Ahnengalerie“ der libanesischen Künstlerin Jihan El Tahri war Teil einer Installation, die sich mit den Dekolonialisierungs- und Bündnisbewegungen nach 1945 auseinandersetzte, mit den Anstrengungen der blockfreien Staaten, nicht von den Machtspielen des Kalten Krieges zerrieben zu werden.

Der Großausstellung in Ljubljana (von September 2023 bis Januar 2024) gelang es in einer fesselnden Melange aus Gegenwartskunst und historischer Druckgrafik, diese Zeit des Aufbruchs dingfest zu machen. Das war vor allem ein Verdienst des Kurators – in einer überraschenden Wahl war der ghanaische Künstler Ibrahim Mahama zum Chef der Biennale bestimmt worden. Unter Mahamas Regie trat einer der seltenen Glücksfälle ein, nämlich dass ein zeitgenössisches Trendthema in ästhetischer und zugänglicher Weise lebendig wurde. In Deutschland wurde Mahamas großer Wurf nur wenig rezipiert, dafür fanden und finden derzeit ähnlich gestimmte Schauen statt. Wie global war der Sozialismus, und wenn ja, warum? So etwa „Re-Connect. Kunst und Kampf im Bruderland“ in Leipzig 2023, ganz aktuell „Echos der Bruderländer“ im Berliner Haus der Kulturen der Welt und immer noch „Revolutionary Romances?“ im Dresdner Albertinum. Jede dieser drei Ausstellungen konzentriert(e) sich, mit Überschneidungen und verschiedenen Schwerpunkten, auf die Rolle der DDR im weltpolitischen Geflecht. Das ist zweifellos verdienstvoll und ordnet sich in die Neubewertungen so genannter ostdeutscher Identität ein, die 35 Jahre nach dem Mauerfall plötzlich ganz dringlich scheinen. Aus meiner Sicht, mit Verlaub, greifen derlei Engführungen auf zeitweilige Solidaritätskampagnen, Freundschaftsformeln, ausländische Studierende, das Phänomen sozialistischer Gastarbeiter nicht nur zu kurz, sondern sind zwangsläufig angetan, den „Internationalismus made in GDR“ zu einer relevanten Größe des damaligen Alltags zu verklären. Doch dieses Land war nicht international. Reisebewegungen in den hier betonten Globalen Süden gab es nicht, ja noch nicht einmal unregulierte in die bewussten Bruderländer, geschweige denn nach Jugoslawien. Dieser Status Quo einer Diktatur gehört heute nicht in den Subtext der Bildwelten von damals versteckt. Unter welchem Vorzeichen sind illustrative Figurationen von Lea Grundig oder Christoph Wetzel in Dresden und Berlin zu deuten? Neben staatlich konzertierter Kunstausübung sehen wir überwiegend Ausnahmefälle, Privilegien und Projektionen. Vielleicht wirken die jeweiligen Präsentationen, teils schlüssig und qualitätvoll konzipiert, teils mit zeitgeschichtlicher Didaktik überfrachtet, auch deshalb seltsam unlebendig, reproduzieren bisweilen sogar exotisierende oder spätkoloniale Klischees. Gewiss, alles geschieht in bester Absicht und unter der Prämisse, diese Themen erstmalig zur Diskussion zu stellen. Doch bei deren Vermittlung hilft es nicht zwangsläufig, bestimmte Thesen kurzerhand mit einem Fragezeichen zu versehen. Allzuschnell verfestigen sich angesagte Diskurse zum Kanon, einfach, weil schon wieder die nächsten kuratorischen Trends an der Reihe sind.

Genug der Mäkelei. Warum hat Ibrahim Mahamas afrikanisch-slowenisch-globale Grafikbiennale eigentlich so gut funktioniert? Vielleicht spiegelt sich darin, dass in Jugoslawien damals eine Version des Staatssozialismus herrschte, die sich viel inklusiver und angstfreier auf das Weltgeschehen einließ? Weil die Identifikation als blockfreie, nicht-sowjethörige Region automatisch eine kulturelle Öffnung über das diplomatische Protokoll hinaus verlangte? In der Sammlung des Internationalen Zentrums für Grafikkunst in Ljubljana (MGLC) finden sich unzählige Zeugnisse des Austauschs, nicht zuletzt weil die Biennale seit 1955 lückenlos besteht und bis heute Künstler*innen aus aller Welt in den grafischen Werkstätten arbeiten. Für Mahama bedeutete der Fokus auf das Medium Grafik keine Behinderung seiner experimentellen und partizipativen Praxis.

Er ermutigte die Teilnehmer*innen „seiner“ Biennale, auf die Ressourcen des MGLC zuzugreifen – so entstanden die auf Baumwollmusselin gedruckten Porträts von Jihan El Tahri direkt vor Ort. Zu Grafik gehören nun nicht nur manuell erarbeitete Drucke, sondern ebenso Plakate, Flugblätter, Typografien und sogar Briefmarken – ein Spektrum, das auch in den Dresdner „Romances“ deutlich wird. Untrennbar sind derartige Druckerzeugnisse mit der politischen und ästhetischen Geschichte verknüpft, im Verlauf des zwanzigsten Jahrhunderts zunehmend. Statt jedoch Exemplare davon als reine Ausstellungsstücke zu verstehen, bauten viele Künstler*innen in Ljubljana Bild-Raumerzählungen um historische Motive und Dokumente herum. Besonders gut gelang das der Iranerin Sanaz Sohrabi, die die „grafische Identität“ der OPEC-Staaten (ölproduzierende Länder), eines weiteren Bündnisses gegen die Blockmächte, anhand von Schallplattenhüllen, Ersttagsbriefen und Piktogrammen reanimierte. Die Authentizität und die Vitalität der 35. Grafikbiennale lag darin, dass der durchaus historische Anspruch nirgends historisiert oder musealisiert wurde. Gegenwartskunst kommentierte nicht punktuell, sondern trug die gesamte Thematik. Zahlreiche Künstler*innen stammten aus genau jenen Regionen, in denen der heutige postkoloniale Alltag unmittelbar auf Machtspielen nach 1945 fusst – geplatzte Hoffnungen, Gewalt und anhaltende Ausbeutung inklusive. Aus dieser, oft persönlichen Perspektive ist nur wenig Raum für neomarxistische Verklärung. Danke für den Blickwechsel, Ibrahim Mahama!

Revolutionary Romances?; Staatliche Kunstsammlungen Dresden,

Albertinum, bis 02.06.2024 // digitales Projekt hier:

https://voices.skd.museum/on-screen

Echos der Bruderländer, Haus der Kulturen der Welt Berlin, bis 20.05.2024

www.hkw.de/programme/echos-der-bruderlaender