UNSERE EIGENE SCHULD

Ausgabe 1/2018

UNSERE EIGENE SCHULD
Elvin Nabizade, Under One Sun, Pavillon Aserbaidschan, 57.Kunstbiennale Venedig 2017 - Foto: Susanne Altmann

Ein Rückblick auf die Kunstkritik im Superkunstjahr 2017

Kennen Sie Aserbaidschan? Gar nicht? Nur aus der Ferne? Von der Berichterstattung um den Eurovision Song Contest 2012 in Baku? Oder weil die irakisch-britische Stararchitektin Zaha Hadid dort ein spaciges Solitärgebäude zu Ehren des Autokraten Alijew errichtete? Stellen wir also fest, dass selbst unsere gebündelte Kapazität zum Thema Aserbaidschan noch nicht einmal als Halbwissen durchgeht. Das muss uns nicht bekümmern, denn diese Unbedarftheit teilen wir mit zahlreichen Journalisten und Kulturkritikern. Als im Mai 2017 die 57. Biennale in Venedig eröffnete, geisterte das Schlüsselwort „Aserbaidschan“ in selten erlebter Dichte speziell durch deutsche Presseorgane. Was war geschehen? Martin Roth, verstorbener Kulturmanager, Weltbürger und zuvor erfolgreicher Museumsdirektor in London und Dresden, bespielte den Länderpavillon der vormaligen Sowjetrepublik als Ko-Kurator. Das allein reichte aus, um den damals schon todkranken Roth vor einen virtuellen Ethikrat zu zerren. Hatte sich irgendjemand die Mühe gemacht, den künstlerischen Inhalt des Pavillons im Palazzo Lezze am venezianischen Stefansplatz einmal genauer zu untersuchen? Immerhin hätte das ja die Argumentation schärfen können. Oder hatte sich jemand dazu aufgerafft, die Auftritte Aserbaidschans in Venedig generell zu analysieren? Zumal bereits 2011 dort der provokative Beitrag der Moskauer Künstlerin Aidan Salachova zwar zu Kontroversen mit der offiziellen Kulturpolitik, nicht aber zu Totalzensur oder Schließung geführt hatte. Für derlei Untersuchungen war jedoch keine Zeit, denn bald schon sprang der Meinungstross auf den nächsten fahrenden Zug. Es galt nun, Damien Hirsts materialintensiven Auftritt zu diffamieren, die Handlungen des Documenta 14-Kurators Adam Szymczyk zu bewerten, die Skulpturprojekte Münster zum gelungensten Coup des ganzen Jahres zu erklären und sich dann erneut auf Szymczyk und die kommunale Finanzpolitik der Stadt Kassel einzuschießen, als wäre das der Supergau seit der Amtseinsetzung von Donald Trump.

Wir haben alle Anteil an diesen armseligen, ebenso kurzatmigen wie kurzlebigen Debatten. Wir sind alle Komplizen in diesem unwürdigen, ja: populistischen Tanz um die beste Schlagzeile. Übrigens: Schlag-zeilen wollen gerne zuschlagen. Wir haben mitgespielt, indem wir uns unsere Besichtigungsplanungen davon diktieren ließen, indem wir Szymczyks unglücklich elitärem Habitus bisweilen mehr Beachtung gezollt haben als den Kunstwerken, indem wir schon in einer gewissen Vorschusseuphorie Shirin Neshat, The Home of my Eyes (2015), Museo Correr, 57.Kunstbiennale Venedig 2017 nach Münster gefahren sind, indem wir uns generell zu wenig Zeit für Reflexion genommen haben und glaubten, dass uns ein instagrammatisches Dabeigewesensein bereits zu Insidern adelt. In Wirklichkeit haben wir uns von dem sich selbst organisierenden Moloch hektischer Berichterstattung manipulieren lassen und haben uns der Respektlosigkeit gegenüber der gezeigten Kunst und deren Macherinnen schuldig gemacht. Erinnern wir uns nur an den Vorwurf gegenüber der Biennalekuratorin Christine Macel: Sie hätte überwiegend unbekannte Positionen gezeigt; solche, die in der internationalen Kunstwelt gar keinen Namen hätten. Sorry, aber geht es bei der Biennale nicht gerade um Entdeckungen – auch wenn man damit nicht unbedingt die dicksten Sponsoren einfängt? Wie wäre es sonst möglich gewesen, das großartige Breitwand- und Animationsspektakel um den Tod von Kapitän James Cook auf Haiwaii im neuseeländischen Pavillon zu erleben, inszeniert von einer gewissen Lisa Eihana? Oder den verführerischen Audioparcours des Ägypters Hassan Khan auf den zertrampelten Rasenhügeln ganz am Ende der Arsenale? Oder das buchstäblich unter den Zumutungen des postsowjetischen Kapitalismus weinende Holzhaus des Georgiers Vajiko Chachkhiani? Oder die frechen und formbewussten Installationen von Mariechen Danz oder von Pauline Curnier Jardin? Das todtraurige Marionettentheater von Carlos Amorales? Hassan what? Mariechen who?

Entdeckergeist wurde aufgeweicht von endlosen Bildschirm- und Zeilenquantitäten um Anne Imhof und ihre meistens nur aus leeren Glaseinbauten bestehende Performance im Deutschen Pavillon und von wortreichen Deutungen, wie gelungen zeitgeistig oder dekadent (oder beides) das Ganze nun sei. Dabei spielte sich gegenüber im französischen Pavillon, installiert von Xavier Veilhan, eine fesselnde Endlossession ab. Blutjunge Musiker und Audionerds bedienten die Instrumente und Geräte eines öffentlichen Aufnahmestudios; einfach, weil sie Spass daran hatten. Diese bunte Crew spiegelte mindestens ebensoviel Zeitgeist wie Imhofs Performer, zudem musste man nicht tagelang auf ihr gnädiges Erscheinen warten. Haben Sie irgendwo derlei Vergleiche oder hyperventilationsfreie Einordnungen gelesen? Ich nicht. Denn meistens ist die Kunstkritik schon weitgehend abgeschlossen, wenn die Großausstellungen noch monatelange Laufzeiten vor sich haben. Wir könnten das als verpasste Chance beklagen und „der“ Kunstkritik in den entsprechenden Leitmedien anlasten. Doch Kunstkritik als sorgsames, bitteschön auch liebevolles, horizontal und vertikal nach Zusammenhängen tastendes Werkzeug – das war wahrscheinlich das Allerletzte, was man von diesem geradezu klaustrophobisch dichten Kunstjahr hätte erwarten dürfen. Allenfalls Defizite und Kurzsichtigkeit sind uns deutlich geworden und damit unsere verd…te Pflicht, als Kunstbetrachter und -lieberhaber_innen, uns davon nicht durch die Pavillone, durch die Hitze Athens und über die Auen von Kassel und Münster jagen zu lassen. Sondern uns still und mit aller gebotenen Begeisterungsf.higkeit etwa Videoarbeiten von Theo Eshetu, Anna Daucikova oder Naeem Mohaiem ausnahmsweise mal bis zu Ende anzuschauen. Oder Damien Hirsts kindliches Verzweifeln an der Kunst einmal mit der spirituellen Authentizität der Wunderkammern im Palazzo Fortuny in Bezug zu setzen. Und plötzlich sehr viel über Gegenwart und Vergangenheit, über die Unmöglichkeit des Besitzens und über das uralte Konzept der Vanitas zu verstehen.

Dafür gibt es allerdings keine gedruckte Anleitung, sondern nur die Verantwortung mündiger Betrachter_innen. Die hätte uns dann auch geradewegs ins Museo Correr auf dem Markusplatz führen können, wo als Kollateralmaßnahme der Biennale ein Projekt der globalen Starkünstlerin Shirin Neshat aufgeführt wurde. Der betreffende Saal wurde beherrscht von einer Vielzahl von routiniert aufgenommenen, schwarzweiße Großporträts: Menschen aus…Aserbaidschan. Bei dem Projekt „The Home of my Eyes“ geht es um die iranischen Wurzeln einer gewissen ethnischen Minderheit in dem Vielvölkerstaat. Beauftragt, und schon 2015 dort ausgestellt, war der Bildzyklus von dem wohl größten Zentrum für Gegenwartskunst in Baku, dem Yarat Centre, das dort, offenbar unbehelligt von totalitären Umtrieben und zudem finanziell gut aufgestellt, progressive Kunstarbeit leistet. Haben Sie irgendwann Kritik an Shirin Neshats Zusammenarbeit mit dem Kunstzentrum vernommen? Ich nicht. Als die, von Martin Roth ausgewählten, aserbaidschanischen Künstler Elvin Nabizade und Hypnotica mit ihren Konzepten mindestens ebenso relevant und poetisch wie Neshat die ethnische und religiöse Vielfalt ihres Landes feierten, dann sollte das plötzlich der Alijew-Herrschaft huldigen? Das hatte nichts mehr mit seriöser Berichterstattung, geschweige denn mit Kunstkritik zu tun, sondern war plumper Sensationalismus. Warum sich Medien (und zwar auch die lokalen) immer mehr derlei blinden Populismen verschreiben, kann hier nicht geklärt werden. Eines nur ist klar, wer selber schaut und denkt, ist klar im Vorteil. Denn sonst wäre dieses Superkunstjahr an uns vorbeigezogen, ohne dass wir dessen Einzigartigkeit(en) bemerkt hätten. Und es wäre unsere eigene Schuld gewesen.

Susanne Altmann

Susanne Altmann (Kunsthistorikerin, Dresden), Elly Brose-Eiermann (Kuratorin und Kunstvermittlerin,Dresden), Konstanze Schütze (Kuratorin und Kunstpädagogin, Dresden/Berlin), Silke Wagler (Kunsthistorikerin, Dresden) kommentieren und begleiten das Geschehen in der Gegenwartskunst Dresdens als „Verstärker für Kunst“ auf den ersten Seiten jeder Ausgabe