Was, wenn die Begegnung zum Diskurs führte, und nicht umgekehrt?
Su-Ran Sichling und Jorge Dias zeigen wie es geht. In Maputo.
von Susanne Altmann
Im November 2025 ging in Maputo die Ausstellung „A Materialidade das Migrações“ (Materialitäten der Migration) zuende. Wir haben diese Doppelschau nicht gesehen und werden sie auch nicht zu sehen bekommen. Dabei gäbe es unzählige Gründe dafür: ästhetische, historische und ja, zeitgeistige. Die Begegnung von Jorge Dias und Su-Ran Sichling erweist sich als praktisches Kontrastprogramm zu aktuellen kuratorischen Lippenbekenntnissen. Geben wir uns für den Moment mit den Abbildungen aus einem fernen afrikanischen Museum zufrieden. Dort kam es – in Echtzeit – zu einem funkelnden Dialog zwischen Kulturen, Lebensweisen, Biografien und Werkstoffen. Eine Lektion darin, wie auch im Kunstbereich „leichte“ Sprache bei vermeintlich „schweren“ Inhalten funktioniert. Wahrscheinlich wären intime Formate wie dieses weit besser geeignet, um verständlich über geopolitische Ungleichheiten oder das vielbeschworene Nord-Süd-Gefälle zu sprechen als europäische Großausstellungen. Und dann müssten solche Formate natürlich an allen jeweiligen Orten des Austauschs zu sehen sein. Denn so lange hier keine Regelmäßigkeit auf Augenhöhe hergestellt wird, bleibt das Gefälle intakt, werden Künstler*innen und Szenen des so genannten globalen Südens als das Andere wahrgenommen werden und nolens volens exotisiert.
Das Dilemma beginnt mit Projektförderungen, die sich auffällig um bestimmte Trends gruppieren. Es setzt sich damit fort, dass geschickt formulierte Antragsprosa für diskursförmige Themen häufig von Erfolg gekrönt ist und dass sich, in diesem Sinne, der Förderteufel auf die größte Ansammlung von angesagten Platituden entleert. Pardon my French. Im Feld der Gegenwartskunst und ihrer schwammigen Definitionen sind das alles keine Neuigkeiten mehr. Strategisch gutgemeinte Begriffe wie postkolonial, global, transnational, horizontal oder planetarisch erschöpfen sich aneinander. Immer wieder richten sich kurzlebige Phänomene auf der bequemen Metaebene ein. Aufrichtiges, anhaltendes Interesse an politischen und kulturellen Realitäten ist hingegen selten. Das sehen die Förderpolitiken nicht vor.
Genug des obskuren Geraunes, kommen wir zum konkreten Fall. Ausstellungen wie „Re-Connect. Kunst und Kampf im Bruderland“ (Museum der bildenden Künste Leipzig, 2023), „Echos der Bruderländer“ (Haus der Kulturen der Welt Berlin, 2024) und „Revolutionary Romances“ (Albertinum Dresden, 2024) waren verhältnismäßig generös ausgestattet. Deutlich legitimierten sie ihre gesellschaftliche Relevanz entlang einer (berechtigten) Kritik am deutsch-deutschen Aufmerksamkeitsgefälle. Will sagen, letztendlich ging es doch nur um Deutungsdefizite von klassischen DDR-Themen, deren ungeordnete und bestenfalls kulturhistorische Aufbereitung. Differenzierte Neugier für Territorien des globalen Südens, geschweige denn eine respektvolle Würdigung der betreffenden Kulturlandschaften war wenig zu spüren. Das funktioniert nur gemeinsam mit lebenden Protagonisten vor Ort. Wenn in „Revolutionary Romances“ illustrativer Realismuskitsch von ostdeutschen Reisekadern Seite an Seite etwa mit hervorragender kubanischer Plakatkunst oder schmerzhaften Werken von chilenischen Exilanten gezeigt wurde, dienten letztere nur als Feigenblatt für die Abwesenheit von internationalem Kontext. Sind meine Erwartungen überzogen oder wurde das Pferd hier wirklich von hinten aufgezäumt?
Um wieviel spannender wäre eine Präsentation, die erst einmal nur die Reaktionen ostdeutscher Künstler*innen auf damalige Weltlage, Propaganda, auf verordnete und wirklich empfundene Solidarität wie auch auf die restriktiven Reisebedingungen und ihre Durchlässigkeiten offenbart hätte? Und weitergedacht: Würde die Kunst der jeweiligen Bruder- und sonstig mit der DDR-assoziierten Staaten nicht genauso eine spezifische Betrachtung verdienen, jenseits eines bloßen Sidekicks?
Su-Ran Sichlings Antwort wäre ein klares „Ja, unbedingt!“ Und da sprechen wir nur vom Fokus auf ein einziges Land: Mosambik. Als ausgebildete Scheibentöpferin und Bildhauerin mit mehreren Hochschulabschlüssen reiste Su-Ran Sichling 2019 in den Süden Afrikas, um zu lehren und wahrscheinlich noch mehr: zu lernen. Sie traf die Kunsthistorikerin Alda Costa und den Künstler Jorge Dias, die sie nicht nur in die lebendige Kunstszene einführten, sondern ihr auch die Augen für bedeutenden Positionen des nationalen Kunstschaffens wie Malangatana Valente Ngwenya, Mankew Valente Mahumana oder Alberto Chissano öffneten. Deren originelle Stilistiken beziehen sich sowohl auf traditionelle Formen und die Typisierungen von menschlichen Figuren wie auch auf politisch motivierte Ausdrucksweisen des Unabhängkeitskampfes und der nationalen Souveränität. Viele dieser Arbeiten sind im Kunstmuseum von Maputo (Museu Nacional de Arte, MUSART) zu sehen, das 1989 gegründet wurde. Als sich das Land 1975 der portugiesischen Kolonialmacht entledigt hatte, schlug es unter der Führung der Befreiungsbewegung FRELIMO einen marxistisch geprägten Weg ein. In diesem revolutionären Klima wurden Kunstausübung und -ausbildung zunächst als bourgeoiser Zeitvertreib abgetan. Zudem brach fast unmittelbar ein langer Bürgerkrieg aus. Besonders die DDR zeigte tätiges Interesse am Machterhalt der FRELIMO und unterstützte die junge Republik sogar indirekt militärisch. Weitaus bekannter ist jedoch die „Stärkung“ der mosambikanischen Wirtschaft, wodurch tausende Arbeitskräfte nach Ostdeutschland kamen, die – statt der versprochenen Ausbildung – als Billiglöhner ausgebeutet und am Ende um ihren Verdienst betrogen wurden.
Doch gleichzeitig suchten sowohl die Sowjetunion als die DDR ihren kulturellen Einfluss auszuweiten. Als ab 1979 eine akademische Kunstausbildung organisiert wurde, fehlte es an einheimischen Lehrkräften. Das war die Stunde der „cooperantes“, wie sich der namhafte Bildhauer Victor Sousa erinnerte: Für je zwei Jahre verpflichteten sich Freiwillige aus sozialistischen Ländern nach Mosambik. Bulgaren, Deutsche, Sowjets und Kubaner etwa bildeten einen kosmopolitischen Lehrkörper. Die mosambikanischen Studierenden wurden primär dazu ausgebildet, ihr Wissen weiterzugeben, weniger um eigene künstlerische Karrieren zu verfolgen. Bald schon unterrichteten mehrheitlich Einheimische – Sousa war einer der ersten von ihnen. Der kosmopolitische Charakter der erwachenden Kunstszene blieb später durch Auslandsstipendien gewahrt – Künstler*innen studierten in Moskau, Kyiv, Taschkent, Havanna und in der DDR. Diese Internationalität, oder besser: Interkulturalität grundiert wohl bis heute das Selbstverständnis der Kunstszene Mosambiks.
Insofern standen die Türen weit offen für die Doppelausstellung von Su-Ran Sichling und Jorge Dias im MUSART. Unter der kuratorischen Regie von Alda Costa verschränkten sich die Werke in den Räumen. Dass beide ihre Wurzeln in den keramischen Künsten haben, war hier nicht zu erraten. Dafür teilen sie eine sichtbare Faszination für Alltagskulturen, deren Objekte und Techniken sie sich aneignen. Wenn also Jorge Dias ein Bügelbrett mit gemustertem Baumwollstoff bezieht und darauf säuberlich ein zerlegtes Bügeleisen arrangiert, erzählt er gleichzeitig die Geschichte der charakteristischen, großgemusterten Capulana-Gewebe aus Mosambik, der Auflösung der regionalen Textilindustrie und deren Ersatz durch ähnliche Produkte aus Europa. Su-Ran Sichling wiederum zeigt die Replik eines Teppichs, der noch 1989 in einem sozialistisch gestimmten, ostdeutschen Textilzirkel gewebt wurde. In dessen abstrakte Ornamentik nähte sie, geradezu geisterhaft, die Umrisse von Schnittmusterbögen ein. Mit diesen Vorlagen produzierten vietnamesische Vertragsarbeiter zu DDR-Zeiten begehrte Kopien von westlichen Jeans und verkauften sie unter der Hand. Beide Arbeiten enthalten die Migrationsbewegungen eines Materials, hier Textil, innerhalb geopolitischer Wandlungen. Überall in der Ausstellung kommt es zu assoziativen und materiellen Annäherungen: da sind die mit stilisierten Insektenschwärmen überzogenen traditionellen Gefäße von Dias und dort die typischen, privat hergestellten Ziergitter aus Kleingartensiedlungen zwischen Rostock und Suhl, von Su-Ran Sichling liebevoll aufgearbeitet. Dias, 1972 geboren, hat als Kind den Bürgerkrieg erlebt, in seinen Wimmeltableaus klingen massenhafte, verwirrende Ortswechsel an – Flucht und Vertreibung aus der Perspektive eines kleinen Jungen. Sichling, die Deutsche mit koreanischem Hintergrund, will sich als Künstlerin nicht von Identitätsdebatten vereinnahmen lassen: ihr Siedlungsmodell der Herrnhuter Missionare verweist auf deren weltweiten Aktionsradius als ambivalente „Heilsbringer“ und frühe Entwicklungshelfer, auch in Mosambik. Sie, wie auch ihr Künstlerfreund Dias, belehren die Betrachter*innen nicht oder versuchen kulturelle Codes zu knacken. Nein, sie – oder besser: ihre Werke unterhalten sich miteinander und wir können (aus der Ferne) zuhören. Dieses behutsame, ja fast flüsternde Zwiegespräch vollzieht sich zwischen den Gegenständen, Texturen, Werkstoffen und ihren künstlerischen Verfremdungen. Die Anwendung der oben genannten Diskursformeln ist möglich, aber nicht zwingend.
weitere Informationen: www.buala.org/pt/galeria/a-materialidade-das-migracoes
mehr zum Thema im DCA Editorial der Ausgabe II/ 2024: https://dresdencontemporaryart.com/de/editorial/volker-habt-ihr-die-signale-gehort-zum-trendthema-internationalismus-im-ostblock