Was heißt hier eigentlich Kritik?
Ausgabe 4/2019
Als Verstärker sind wir vor knapp fünf Jahren angetreten, um viermal im Jahr die zeitgenössische Kunst in Dresden zu begleiten. Aktuell schreiben wir die 20. Ausgabe, ein freudiges Ereignis an sich, aber auch Grund für eine kritische Rück- und vielleicht auch Vorausschau. Haben sich Chancen erfüllt, Probleme gelöst oder neue Themen eröffnet? Vor dem Hintergrund der aktuellen politischen Lage(r) wäre es leider naheliegend, ein eher dystopisches Szenario für die Kunst und ihre Diskurse zu beschwören. In einer Art Zirkelschluss, richten wir nun aber den Blick nochmals in die Waschschüssel, so wie wir es im ersten gemeinsamen Text getan haben. Das Kind lässt sich ja bekanntlich mit dem Bade ausschütten. So oder so ähnlich scheint es uns in Dresden oft zu widerfahren.
Susanne Altmann (S) und Konstanze Schütze (K) für Verstärker
S: Als im Herbst 2017 eine Debatte zum Umgang mit ostdeutscher Kunst im Albertinum anflutete, störte mich von Anfang an die Unschärfe der Begriffe, mit denen hantiert wurde. Und die Bereitschaft, persönliche Ressentiments auf dem Rücken der Kunst sowie von Kunstschaffenden auszutragen. Eigentlich ist es ja positiv, wenn sich unversehens zahlreiche Mitbürger*innen für ein bestimmtes Thema interessieren. Doch im Grunde war das (bei dem ich mich weigere, es als „Bilderstreit“ zu bezeichnen) nur eine Symptomatik öffentlicher Unmutsbekundungen, die sich in einem recht engen geistigen und lokalen Radius ereigneten. Die so genannten sozialen Medien spiel(t)en hier mit ihrem Impuls zu jedweder spontaner Meinungsäußerung eine Trigger-Rolle genauso wie der oft an Verzweiflung grenzende Eifer von klassischen Printmedien, Aufmerksamkeit zu generieren. Das Feigenblatt vom „Endlich-mal-ins Gespräch-kommen“ als Erfolgsmeldung verrutschte häufig und gab den Blick frei auf erhebliche Wissenslücken bei allen Beteiligten: Was und wer repräsentiert eigentlich ostdeutsche Kunst? Wie lange ist man/frau nach 1989 noch ostdeutsch? Wie gehen andere, ganz genauso von der damaligen Transformation betroffenene Länder mit diesem Thema um? Wem nützt es, einen Ost-West-Konflikt entlang von Sieger- oder Opferrollen zu schüren? Genau an dieser Schnittstelle nützten die Debatten dann plötzlich einem politischen Lager, mit dem frau/man sich doch gar nicht identifizieren mochte. Oder doch?
Insofern war es vom Streit um den Umgang mit Kunst, die in der DDR entstand, gar nicht so weit zu den unreflektierten Angriffen auf Manaf Halbounis monumentale „Straßensperre“ aus drei Bussen und auf Heike Mutters & Ulrich Genths „Denkmal für den permanenten Neuanfang“ – beide Arbeiten auf dem brisanten Kopfsteinpflaster des Dresdner Neumarkts. Wir Verstärker*innen haben uns bemüht, gerade diese Auseinandersetzungen im Bereich der nichtinstitutionellen Gegenwartskunst kritisch zu begleiten und in Phänomene der öffentlichen Kunst anderswo einzubetten. Und auch wenn der Demokratiebegriff in puncto freier Meinungsäußerung gerade wieder eine ambivalente Konjunktur erlebt, muss doch klar sein, dass Kunstfreiheit gemäß Grundgesetz davon nicht diffamiert oder beschnitten werden darf. Persönliches Unwohlsein hin oder her. Dabei auf der Strecke geblieben ist auch fachlich fundierte Kunstkritik, um die es in Sachsen mangels adäquaten Medien und Protagonist*innen schon lange düster bestellt ist. Denn eines sollten uns die Debatten der letzten drei, vier Jahre gelehrt haben – auch in ihren realpolitischen Auswirkungen: Wer am lautesten und provokativsten tönt, hat vielleicht die Aufmerksamkeit, nicht aber recht. Insofern plädieren die Verstärker*innen zumindest im Bereich der bildenden Kunst dafür, nicht ohne Not in die Falle des verbalen Populismus zu tappen. Sondern auch auf Kunstereignisse zu schauen, die gleichzeitig präzise und deeskalierend funktionieren. Das gilt etwa für den „Laden Saleh“, der im Sommer auf der Hauptstraße auftauchte, ausgedacht und eingerichtet von dem Rotterdamer Künstler Simon Kentgens. Am Beispiel des indonesischen Malers Raden Saleh (1811-1880), der ab 1839 mehrere Jahre in Dresden lebte und arbeitete, wurde hier behutsam und unterhaltend geklärt, wie Fremd- oder Andersartigkeit von jeher die westliche Kulturgeschichte geprägt und bereichert hat. „Laden Saleh“ hat nicht nur jene Bürger*innen beglückt, die Dresden von jeher als den Nabel der Welt betrachten, sondern auch jene, die die Stadt und sich selbst darin als ein kleines Rädchen im geopolitischen und historischen Weltengetriebe einzuordnen wissen.
K: Der Historiker und Bestsellerautor Yuval Noah Harari schreibt: „Theoretisch kann sich jeder an der Diskussion über die Zukunft der Menschheit beteiligen, aber es ist ziemlich schwer, dabei einen klaren Blick zu behalten.“ Wie könnte es angesichts des Schlamassels der Gegenwart ein klarer Blick gelingen und dann noch in Dresden? oder: wer ist überhaupt noch an einer klaren Sicht auf die Lage der Gesellschaft(en) interessiert? Fakenews und Informationsblasen helfen nicht, wesentliche Fragen aufzuspüren. Wo bleibt der Streit, der sich unbedingt von Keilerei, aber auch von hegemonialen Beschwichtigungsgesten unterscheidet? Produktiver Dissens ohne das Heischen um Aufmerksamkeit, gibt es so was? Für mich als forschende Kunstvermittler*in ist die Suche nach dem Wesentlichen im rein Offensichtlichen als beruflicher Modus selbstverständlich, gar zentral. Noch wichtiger jedoch ist die Frage, danach, wie sich aus den vielen unwesentlichen Schleifen künstlerischer Angebote, doch etwas Schlüssiges zu den unübersichtlichen Choreografien der Gegenwart lernen und vermitteln lässt. Orientierungslosigkeit ist dabei keine Floskel mehr, sondern im besten Falle geteiltes Leid. Kunstvermittlung setzt zunehmend mit kritischen und transformatorischen Ansätzen darauf, von Kunst nachhaltig getroffen zu werden, sogar notwendige und wesentliche gesellschaftliche Veränderungen anzustoßen. Eva Sturm benannte den entscheidenden persönlichen Moment der Kunstbegegnung als Punctum. Per Punctum trifft die ästhetische Verdichtung die Betrachter*innen auf ganz eigensinnige und jeweils besondere Weise. Einmal getroffen, stellen sich weiterführende Fragen und Themen ein. Idealerweise saugt das Publikum im Wortsinn eine komplexe forschende Auseinandersetzung an. Solche Momente wünschen wir uns mit/von Kunst. Doch ehrlich, wann und wo wird wer wovon tatsächlich noch getroffen? Kalt erwischt?
Der Philosoph Michel Foucault spricht in seinem Essay „Was ist Kritik?“ von „Hingabe“, wenn er die Anforderungen der kritischen Annäherung verhandelt. Hingabe kommt bekanntlich ohne Abstandsgesten aus. Also dann: Wem oder was geben wir uns hin, ohne an oberflächlichem Distanzierungsgebaren zu kleben? Wieviel Restabstand und wie viel Einfühlung sind für echte kritische Auseinandersetzung nötig? Viele, darunter auch lokale und junge, Künstler*innen widmen sich hingebungsvoll der Komplexität der Gegenwart. Sie stellen ausdauernd die ganz großen Fragen nach der sinnvollen Gestaltung der Zukünfte und sie meinen es ernst. Mit ihren Beiträgen öffnen sie u.a. den Blick für ethische und soziale Fragen, die der technologische Fortschritt, aber auch die politischen Unverhältnisse mit sich bringen. Wie könnte die Kritik hier nachziehen? Über Science Fiction bis Visionary Fiction verhandeln Künstler*innen längst vielschichtige Szenarien zukünftiger Gegenwarten und konturieren bildnerisch was uns bereits umgibt. Insofern verstehe ich gelungene Kunstkritik als Begleitung dieser produktiven künstlerischen Hingabe mittendrin. Vorsichtshalber plädiere ich sogar dafür, dass es überhaupt nicht mehr um Kunstkritik im konventionellen Sinne gehen sollte, wenn wir mit der Kunst etwas an der Gegenwart verstehen wollen. Stattdessen geht es wohl darum, abseits von lautstarken Themenaufrissen, Heilsversprechen, Symbolakten, inszenierten Streitflächen, oder Lehrbuchkritteleien, wirklich getroffen zu werden – also: fundierte Debatten mit durchdringenden Fragen voller Hingabe zu führen.