Kunst im Kombinat
Ausgabe 4/2024
Was Gerhard Richter mit sozialistischer Hygiene zu tun hat
von Susanne Altmann
Ein wenig Matisse und Cezanne da, eine Prise Botticelli und Manet dort, ein paar Arabesken aus Fauna und Flora, und zum Schluss noch ein Traktor – und fertig ist die „Lebensfreude“, made in GDR. Ein Frühwerk von Gerhard Richter, mit dem er fremdelt. War es also ein Glücksfall, dass das Werk 1979 übertüncht wurde? Ganz so einfach ist es nicht. Denn hier greifen keine böse Klischees des sozialistischen Realismus, Sujet und Malweise dieses Wandbilds sind durchaus besonders. In einer Zeit, die Künstler*innen für unpolitische Motive und Anklänge an die Vorkriegsmoderne verdammte, ging Absolvent Richter damit ein gewisses Risiko ein. Auch die Komposition selbst und die maltechnische Umsetzung weisen Qualitäten auf, die aus der damaligen sozialistisch-realistischen Massenware hervortreten. Diesen Stellenwert möchte man dem aktuell 92-jährigen Urheber, der erst nach langer Bedenkzeit einer partiellen Öffnung des Werks zustimmte, gerne einmal unverbindlich erklären.
Wer könnte das besser als Restaurator Albrecht Körber, der mit seiner Kollegin Susann Förster seit Monaten daran arbeitet? „Es ist toll gemalt, da sitzt jeder Strich. Das muss man mit vierundzwanzig Jahren erst einmal schaffen.“ Als Experte für Wandgemälde bewundert Körber diesen ernsthaften jungen Maler, der ihm da bei der Arbeit begegnet. Ähnliche Ernsthaftigkeit spricht aus dem Text, den Gerhard „Gerd“ Richter 1956 zu dieser, seiner Diplomarbeit verfasste. Dort empfiehlt er zwar, moderne Architektur „in ihrer Tendenz zu Sachlichkeit und Klarheit“ lieber mit Ornamenten und Dekor zu versehen. Gleichzeitig stellte er sich dem damaligen Gebot der erzählenden Figuration, und zwar in einem schlauchartigen Raum mit einer „riesengroßen Wand, die zu bemalen, ohne erdrückend zu wirken“ ihm fast unmöglich schien. Seine Komposition dann zeigt heitere junge Menschen, unter freiem Himmel einen gesunden, propagandafreien Lebensstil pflegend. Ivo Mohrmann, der als Professor für Restaurierung das Projekt berät, sieht darin sogar eine Liebesgeschichte, die in einer Kleinfamilie gipfelt. Zudem weist Mohrmann auf Richters anspruchsvolle Secco-Malerei hin: Wenige, dünne Malschichten auf trockenen Putz und eine abschließende vertikale Schraffur, das Trattegio, dessen Flimmereffekt die Szenen zusammenbindet. Diese alte Technik und die zurückhaltende, an historische Gobelins erinnernde Farbigkeit erlernte der Kunststudent in der 1953 etablierten Fachklasse von Heinz Lohmar. Wie konzentriert es in Lohmars Atelier in der Dresdner Kunsthochschule (HfBK) zuging, zeigt eine historische Fotografie. Dort begutachten Richter (im Pullunder) und sein Professor (im Pullover) eine Studie für ein Wandgemälde in einem Rundbogenformat. Womöglich ging es darum, Figuren optimal in einem festen Rahmen zu gruppieren – unverfängliche Übungen, die bereits Michelangelo und Raffael betrieben. Für Ivo Mohrmann, der die Personen auf der Abbildung identifizierte, ist Lohmar eine Lichtgestalt: „Er wollte keine plakative, platte Wandmalerei machen. Er fragte, woran die Wandmalerei anknüpfen solle und war ein unheimlich perfekter Handwerker.“ Innerhalb der geradezu fieberhaften Wiederaufbauphase im Dresden der 1950er Jahre herrschte eine exzellente Auftragslage für die Absolvent*innen seiner Klasse. Die Diplomarbeit galt als Visitenkarte, in die baugebundene Kunst einzusteigen, und so war auch für Lohmar das gute Abschneiden seines Studenten Gerd wichtig. 2023, im Vorfeld der derzeitigen Freilegung, unternahmen zwei HfBK-Studentinnen der Restaurierung, eine maltechnische Studie zur „Lebensfreude“. Anhand der bereits bekannten Technik Richters rekonstruierten sie einen Ausschnitt aus der zentralen Strandszene, die zu diesem Zeitpunkt nur aus einer Schwarzweiß-Abbildung, zudem seitlich verzerrt, bekannt war. Das Resultat, jetzt nebst originaler Vorlage, ist noch bis Mitte November im Hygiene-Museum zu betrachten.
Denn dort wird momentan mit der Ausstellung „VEB Museum“ die Geschichte des Hauses, auch als sozialistische Produktionsstätte für weltweit begehrte Lehrmittel, gewürdigt. Die Schau, kuratiert von Sandra Mühlenberend und Susanne Wernsing, bietet einen überraschend detaillierten Ausflug in die Geschichte der Einrichtung nach 1945 und damit in die DDR-Historie. Viele Zeitzeug*innen kommen zu Wort, erzählen voller Stolz von ihrer damaligen Tätigkeit und von der Umwandlung des „VEB Museum“ vom musealen Herstellungsort weltweit begehrter Lehrmittel in ein, nun ja: normales Ausstellungshaus ab 1990. Die Kleinteiligkeit und das gelegentliche Abschweifen in Nachhilfeunterricht zum sozialistischen Alltag wird genial aufgefangen durch die Ausstellungsarchitektur des aus Dresden stammenden Bühnenbildners Mathis Neidhardt und der Szenografin Susanne Hopf. Mit monumentaler Geste, mit gläserner Kuh, einem schmucklosen Gipsmodell des Hauses steigen sie mit „Machtraum“ in das Thema ein. Dort werden die Aus- und Einwirkungen des SED-Staatsapparates auf eine Institution aufgeführt, die nicht zuletzt als internationales Aushängeschuld diente. Von hier aus mäandert das Konzept sehr weit in den aktuellen Trend der sozialistischen Auslandsbeziehungen und dem Leben nicht-deutscher DDR-Bewohner*innen hinein. Wer jetzt etwas den Faden verliert, kann ihn in der Abteilung „Produktion“ wieder aufnehmen, denn dort wird die Herstellung der anatomisch-medizinischen Modelle rekapituliert – mit Einblick in die Abformungstechniken, die skulpturale Darstellung von Krankheitsbildern oder biologischer Prozesse. Besonders witzig: eine in den hiesigen Werkstätten handgeschnitzte Relieftafel „Der Weg der Speisen in den Verdauungsorganen“ von 1959. Hart im Sinne der Sache arbeitende Werktätige sind am Magen, an der Gallenblase etwa und im Darm damit beschäftigt, den Weg der Nahrung bis hin zur Ausscheidung (zwei Muskelmänner in rektaler Funktion) zu beleuchten. An Erläuterungen zur seriellen Produktion von Lebensmittelnachbildungen schließt sich ein kurioser Exkurs zur modularen Architekturelementen an – wohl weil auch dort sozialistisch geformt wurde. Die Theaterplastikerin Christa Michl schlägt mit ihren Erinnerungen einen Bogen zur bildenden Kunst, schließlich waren bildhauerische Techniken im „VEB Museum“ unabdingbar. Weil direkte Gipsabdrücke von Wunden unmöglich waren, setzte hier die kreative Nachempfindung der Befunde ein: „Bei besonders krassen Krankheitsbildern ist vieles nachgebildet worden. Wenn man die Kampfstoff-Moulagen naturgetreu machte, musste man künstlich Blasen aufsetzen.“ Kalter Krieg, Aufrüstung und entsprechende Propaganda endeten nicht an den Toren des Hygiene-Museums. Umso erstaunlicher ist es, dass gerade Gerhard Richters Wandgemälde hier so absolut propagandafrei blieb. Schon allein deshalb wäre es eine Freude (und eine kunsthistorische Dringlichkeit), das Werk dereinst im Ganzen zu sehen.
Im Eingangsbereich lösen Susann Förster und Albrecht Körber noch schichtweise die Übermalungen ab. Unter den Blicken der Besucher*innen dringen sie mithilfe einer Chemikalie bis zu Richters Pinselstrichen vor. Ende November wird von den insgesamt 63 Quadratmetern „Lebensfreude“ die zentrale Partie freigelegt sein. Ein Text vor Ort findet, das junge Mädchen im Badeanzug repräsentiere „das damals propagierte Körperbild...ähnlich idealisiert wie die anatomischen Modelle“. Das sei dahingestellt. Mit ihrer blassen, im Zeitgeist der 1950er Jahre stilisierten Anmut jedoch könnte sie eine Schwester nicht nur von Botticellis Venus, sondern auch von Gerhard Richters „Ema (Akt auf einer Treppe)“ sein, das zehn Jahre später, dann in Westdeutschland entstand. Wird es dem Publikum je vergönnt sein, diese Frauenfigur in der Gesamtheit der originalen „Lebensfreude“ auftreten zu sehen?
Das Museum betont, lediglich eine „Metapher für das Freilegen historischer Schichten“ anzubieten. Doch kann ein Künstler von Richters Format wirklich mit einem solchen Fragment zufrieden sein? Gerade heute, wo Scham und Vorurteile aus Zeiten des Kalten Kriegs einer echten Qualitätsdebatte weichen? Da könnte der Dresdner Absolvent von 1956 durchaus ein Wörtchen mitreden.
Ausstellung „VEB MUSEUM“ bis zum 17. November.
Teilfreilegung von Gerhard Richters „Lebensfreude“
(Strandszene) dauerhaft.
www.dhmd.de/ausstellungen/veb-museum/restaurierungsprojekt-lebensfreude-von-gerhard-richter