Beton, Barock, Knetmasse und Gurken – Noch einmal zu Rotterdam und Dresden (oder umgekehrt)
Ausgabe 4/2023
von Susanne Altmann
Kann man die Geschichte Dresdens auf einer Tapetenrolle darstellen? Aber gewiss, antwortet Maarten Janssen, kein Zweifel. Aber warum?
Als der Rotterdamer Künstler seinen Forschungsaufenthalt in Dresden antrat, nahm er sich vor, gänzlich ohne literarische oder theoretische Begleitung auszukommen. Janssen wollte sich allein von Eindrücken leiten lassen, die er sich – blauäugig gewissermaßen – im Stadtraum erwandern würde. Sein Interesse, so viel war klar, galt den Architekturen und den mehr oder weniger sichtbaren kulturgeschichtlichen Informationen, die ihm die Bauten verraten würden. Während er über eine künstlerische Form für seine Recherchen nachdachte, fiel ihm dann doch ein Buch in die Hände. Er vergass seinen Vorsatz und begann, Kurt Vonneguts berühmten Roman „Schlachthof 5 oder Der Kinderkreuzzug“ zu lesen. Vielen wird „Schlachthof 5“ bekannt sein, der Entwicklungsroman eines Jugendlichen, der sich unversehens als Kriegsgefangener im Deutschland des Jahres 1945 wiederfindet. Für Janssen waren es weniger die Reflexionen über das Bombeninferno, die ihn fesselten. Es war Vonneguts einleitende Beschreibung, wie dieser zur Form seines Textes fand.
Und hier kommt die Tapetenrolle ins Spiel. Der US-Autor hatte, wie er schreibt, „die Dresden-Geschichte schon mehrmals skizziert.“ und fährt fort: „Der beste, jedenfalls der hübscheste Entwurf befand sich auf der Rückseite einer Tapetenrolle. Ich hatte die Malkreide meiner Tochter benutzt, jede Hauptfigur hatte eine andere Farbe. Am einen Ende die blaue Linie traf auf die rote Linie und dann auf die gelbe Linie, und die gelbe Linie hörte auf, weil die Figur, die von der gelben Linie dargestellt wurde, tot war. Und so weiter.“ Dieses bildgebende Verfahren, sozusagen, auf einer Tapetenbahn, war für Janssen der Schlüssel zu seinem eigenen Werk „Beton und Barock“. Er drehte das Konzept allerdings um 90 Grad und „stapelte“ seine Bildbahnen horizontal übereinander. Im Sommer nur für kurze Zeit im Kunstraum D. Rockefeller installiert, wirkte es auf den ersten Blick gar nicht wie eine strukturierte Erzählung, vielmehr wie eine strenge, auf reiner Formwiederholung basierende Arbeit. Dieses Vorgehen entspräche zwar Janssens Vorliebe für serielle, geometrische Kunst, doch hier in Dresden hatte jedes Element seinen eigenen ikonografischen Hintergrund. Die aufgemalten Renaissance-Mauersteine aus dem Stallhof und ein Modul aus Friedrich Krachts Ornamentband am Robotrongebäude bilden den Grundbass der Abwicklung. Immer wieder schieben sich fotografische Aufnahmen von Bildfriesen aus mehreren Jahrhunderten dazwischen. Da gibt es Zitate aus Reinhold Langners Relief vom TU-Studentenwohnheim Güntzstraße (1955), vom spätmittelalterlichen Totentanz des Christoph Walther (1573, heute Dreikönigskirche), vom Fürstenzug sowieso, von den Sockeln diverser Denkmale oder aus dem, hinter Unkraut versteckten Bildzyklus zur Stadtgeschichte (ca. 1976-1979; Edgar Ponndorf, Peter Makolies, Dietrich Nitzsche, Vinzenz Wanitschke) am Neustädter Markt. Für Einheimische mag dieses Kaleidoskop von Funden, im anekdotischen Sinne, fast noch spannender zu entziffern sein als für Nicht-Dresdner.
Überhaupt: Die Idee, Künstler*innen in einem, ihnen unbekannten Revier „auszusetzen“, ist ziemlich genial. Das Goethe Institut Rotterdam, die dortige Kunstzentrale CBK und die Landeshauptstadt Dresden setzen seit einigen Jahren bei ihrem Künstler*innenaustausch auf das Label „Investigating...“ - neudeutsch für „ergründen“. Eine solche Ergründung unternahm auch der Dresdner Künstler Moritz Liebig vor einem Jahr – nur eben in Rotterdam. Wie so viele Besucher*innen der Hafenstadt (s. DCA III, 2023) fiel ihm die Fülle urbaner Kunstäußerungen sofort auf. Dem war eigentlich nichts hinzuzufügen. Oder doch? Liebig schwang sich auf sein Fiets und erschloss sich das Gelände. Sein Vorhaben „Ergänzungsskulptur“ klingt vornehm und ernsthaft: Werke sollten „rekontextualisiert und die bestehenden Inhalte künstlerisch erweitert“ werden. Schaut man sich jedoch die Ergebnisse seiner interventionistischen Streifzüge an, so blitzt häufig Humor auf. Dieser zeigt sich kontrastreich und gerne farbstark – in Form von Früchten, Gemüse und grellem Knetgummi. Prominenter Protagonist eines solchen Zugriff war der 1916 entstandene Willem Schürmann-Brunnen (-fontein), der dem Andenken des gleichnamigen Bühnenautors mit einer ätherischen Flötenspielerin huldigt – die allerdings auf einem Pedestal aus vier antikisierten Masken steht. Liebig montierte diesen Bronzeköpfen schlangen- oder froschartige Zungen und leuchtende Augen ein, in jeweils einer Primärfarbe. Dem theatralischen Pathos der vorletzten Jahrhundertwende entsprechend, verwandelte sich das wasserspeiende Denkmal in eine Ansammlung von Medusenhäuptern. Allerdings nur für den Moment, schließlich war Halloween bereits vorbei und auch sonst legt der Künstler Wert darauf, dass seine „Ergänzungen“ nur flüchtige, wenn auch gut dokumentierte, Erscheinungen bleiben. Ein ähnliches Geschick ereilte den ohnehin witzigen Glatzkopf von Silvia B. an der Claes de Vrieselaan, der dort als „Ode an das Alte (1994) aus der Tiefe der Stadtgeschichte aufzutauchen scheint. Ihm verordnete Liebig einen strahlendblauen, wie flüssig wirkenden Kragen, der daran erinnert, dass der niederländische Untergrund prinzipiell sehr wäßrig ist.
Ernstere Töne gestattete sich der Bildhauer mit improvisierten Schlafplätzen, zusammengestellt aus traurigen Fundstücken des Großstadtlebens, etwa unter Henry Moores ungewöhnlichen Wandrelief aus Backstein (1955). Die ausrangierte Matratze, die Liebig dort verwendete, kam noch einige Male zum Einsatz – am Spektakulärsten wahrscheinlich als gefalteter Einschub zwischen den weltberühmten Beinen von Auguste Rodins „Schreitenden Mannes“ (1905). Die anregende, temporäre Respektlosigkeit setzte sich mit zahlreichen grünen Gurken auf der kubistischen Oberfläche von Fritz Wotrubas „Liegender Figur“ (1969) fort. Der Aufzählung wäre kein Ende. Zum Glück hat Moritz Liebig all seine „Ergänzungen“ in einer Diaschau und einer mehrteiligen Bildschirmmontage festgehalten. Doch auch an den wenigen, hier gewürdigten Exempeln wird – wiedereinmal – die besondere Unbekümmertheit Rotterdams im Umgang mit öffentlicher Kunst, sei diese gegenwärtig, klassisch oder ein Mahnmal, deutlich.
Maarten Janssens Dresdner Flanieren zwischen Barock und Beton dürfte sich deutlich davon unterschieden haben. Statt ständig über Werke zu stolpern, suchten Janssen und seine Mitstipendiatin Lavinia Xausa mit Hingabe danach. Ihr Weg führte sie auch, angeregt von einem Projekt der Dresdner Kollegin Svea Duwe, zu dem sowjetischen Weltkriegsdenkmal am Olbrichtplatz, 1994 vom Albertplatz dorthin umgesetzt.
Während Janssen den Erzählfries vom Sockel in seine „Dresdner Tapete“ einarbeitete, ließ sich Xausa auf das wechselvollen Dasein des Monuments ein. Ihr poetischer Film „Amanda“ spannt einen fiktiven Bogen vom zweiten Weltkrieg, von Sieg und Niederlage, Besatzung, Neubeginn bis ans Ende des Kalten Krieges. Mit verwaschenen Bildern, scheinbar unwesentlichen Details und privaten Erinnerungsstücken zeichnete sie die Umrisse eines zwanzigsten Jahrhunderts nach, in das sich Dresden geradezu symptomatisch einbettet. Und so sehr sich viele Bürger*innen hier auch gegen Veränderungen „ihrer“ Stadt stemmen (und das häufig mit ihren persönlichen Veränderungen verwechseln), als Kurt Vonnegut 1967 noch einmal nach Dresden zurückkam – das er als Trümmerhaufen verlassen hatte – schrieb er: „Abgesehen von den vielen Grundstücksbrachen hatte die Stadt erstaunliche Ähnlichkeit mit Dayton, Ohio.“ So it goes...
Die Ausstellung
„In the Case of Missing. Lavinia Xausa und Moritz Liebig“, Künstleraustauschprogramm Dresden-Rotterdam 2022
ist noch bis zum 12.Oktober im Kunsthaus Raskolnikow zu sehen.