UTOPIEschen: Mit dem Zentralwerk e. V. wird der Rand zur Mitte
Ausgabe 2/2019
Links der Bahndamm, geradeaus hält die S-Bahn, rechts postindustrielle Belebung (zwar seit Jahrzehnten mit mäßigem Erfolg) und nach hinten eine holprige, halb geteerte, halb gepflasterte, halb bebaute (Bahndamm!) Wohnstraße. Genauso sollen wir uns den Ort „Mitten in der Stadt“ vorstellen – zumindest wenn es nach den Aktiven des Zentralwerk e.V. geht. Oder anders formuliert: Die Mitte ist dort, wo wir sind. Das klingt verdächtig nach dem Sound der globalen Gentrifizierung und damit nach einer zerbrechlichen, temporären Konstruktion. Hält genau so lange bis die Investoren kommen. Aber Stopp – dieses Szenario kommerzieller Urbanisierung greift ja nur, wenn Hausbesetzer oder Billigmieter der Konjunktur weichen müssen. Bei dem Zentralwerk jedoch handelt es sich um eine bunte Truppe von Eigentümern; eine Baugruppe mit kulturellen Visionen, die über bürgerliche Wohnideen hinausgehen. Die Genossenschaft wurde 2013 gegründet, als sich abzeichnete, dass der Kreativort „friedrichstadtZentral“ auf der anderen Elbseite nicht mehr als Kollektivprojekt zur Verfügung stand.
Verstärker (V) traf Barbara Lubich (BL), Zentralwerkerin der ersten Stunde und Kultursoziologin, vor Ort.
V: „friedrichstadtZentral“ in Eigenregie zu übernehmen, wäre wahrscheinlich eine überschaubare Angelegenheit gewesen. Was hat Euch nach Pieschen gespült?
BL: Die Vermieter bzw. Eigentümer der Friedrichstädter Liegenschaft haben uns nicht zugetraut, dass wir den Erwerb und die Entwicklung des Kulturortes alleine stemmen könnten. Sie haben unser Kaufangebot einfach ignoriert. Abgesehen von unseren Plänen, scheiterte damals auch die Hoffnung vieler Kreativer, auf dem Areal des Kulturkraftwerks bezahlbaren, weil städtischen Raum zu finden.
V: Die Ausmaße, die das Zentralwerk in Pieschen angenommen hat, gehen weit über Eure Anfangsideen hinaus. Das wird schon klar, wenn man den Innenhof betritt, im Schatten der beiden Bunkertürme steht und auf das gerade in der Sanierung befindliche Veranstaltungshaus blickt.
BL: Es handelt sich um ein Prestigeobjekt der nationalsozialistischen Rüstungsindustrie, das hier 1939 in Betrieb genommen wurde. Schon vor Kriegbeginn geplant, war es wie eine Festung gesichert. Das sieht man übrigens schon äußerlich daran, dass die Fenster der Bunker jeweils von einer extra Betonblende überfangen sind. In diesen beiden Turmflügeln haben wir heute Künstlerateliers und Werkstätten untergebracht, im Verbindungstrakt zur Hälfte Wohnflächen.
V: Wer hier wohnt, wie Du, hat dann jeweils einen Arbeitsraum nebenan?
BL: Nicht jede*r, es gibt auch viele Genossenschafter*innen, die hier nur ihre Büros und Studios haben. Wenn wir das Saalgebäude im Hof fertig hergerichtet haben, wird es auch noch einmal mehr Arbeitsflächen geben.
V: Das Herzstück dieses 1942 eingeweihten, so genannten „Gemeinschaftshauses“ ist der Veranstaltungssaal, der Rüstungsarbeiter*innen wohl den zweifelhaften Genuss von Wochenschauen und Propagandafilmen ermöglichte. Aber die Geschichte endet hier noch nicht…
BL: Nein, denn nach 1945 wurde das Gelände in einen sozialistischen Großbetrieb und zwar die Druckerei VEB Völkerfreundschaft umgewandelt. Wenn sich Anwohner*innen erinnern, dann meist an diese DDR-Zeit, denn das war ja bis zu der Verlagerung des Betriebs 1994 eine viel längere Periode als die Kriegswirtschaft. Im „Karl-Herrmann-Saal“ gingen die Jugendweihen über die Bühne und legendäre Jazzkonzerte. Wir wollen zeigen, dass wir in dem Viertel kein UFO und eben keine typischen Bunkerbewohner*innen sind und dass uns die Geschichte des Ortes nicht nur interessiert, sondern auch zu dem Forschungsprojekt VORHIN angeregt hat.
V: Vom Bau von Bombenzündern zur Kulturproduktion: viele Eurer 40 Genossenschaftsmitglieder bringen schon von sich aus dieses Kulturinteresse mit…
BL: Ja, hier hat sich etwa das freie Coloradio angesiedelt, der Chaos Computer Club, die Produzent*innen von „hechtfilm“, mehrere Tanzinitiativen und viele,viele Einzelpersonen wie Architekt*innen, Musiker*innen, Grafikdesigner*innen, Restaurator*innen.
V: Und eben die bildenden Künstler*innen, die hier ab dem Einzug 2016 eine Ausstellungsreihe namens „Kabinett“ initiierten. Juliane Melches und Dirk Lange haben das Kabinett hinter dem Saal feierlich in Besitz genommen, andere wie Roswitha Maul oder Daniel Rode haben Interventionen entwickelt und damit auch stets das weitere Erblühen des Areals gespiegelt oder kommentiert. Sobald das Veranstaltungshaus eingeweiht ist, geht das Programm dann sicher weiter?
BL: Das beginnt schon viel früher. Seit Mitte März läuft im Kabinett – quasi baubegleitend – unser Format „Mitten in der Stadt/Right within the city“. Mit Treffen, Gesprächen, Recherchen und Dokumentation wollen wir alles teilen, was wir bereits über das Zentralwerk wissen, gleichzeitig neues Wissen produzieren und ausstellen, idealerweise mit Anwohner*innen, Zeitzeug*innen und Neugierigen aus allen Altersgruppen. Das beginnt mit dem Industriestandort und den Prägungen durch Zwangsarbeit mit anschließender Deportation in der Nazizeit bis hin zur Selbstbestimmtheit der Gegenwart.
V: Das klingt wie ein wahr gewordener Traum von einem utopischen Gemeinwesen. Übernehmt Ihr Euch da nicht?
BL: Auf jeden Fall ist das Zentralwerk ein erfolgreiches Modell von Selbstorganisation. Wir handeln im Kollektiv pausenlos verschiedene Möglichkeiten aus, kommunizieren, erzeugen Konflikte und lösen sie wieder. Damit werden wir automatisch zu einer gesellschaftlichen Projektionsfläche. Daraus ergibt sich die Verpflichtung, zu erklären wie und warum wir funktionieren. Dabei erklären wir uns aber auch selber, was in den letzten sechs Jahren passiert ist. „Mitten in der Stadt“ fühlt sich für uns wie ein Atemholen an, das wir uns bisher vor lauter Bautätigkeit, Selbstverwaltung und Mittelkalkulation gar nicht gönnen konnten.
V: A propos Mittel: Kürzlich habt Ihr eine Crowdfunding-Kampagne für die Lüftungsanlage Eures neuen Kulturhauses gestartet, das angepeilte Ziel von 30.000 Euro wurde weit übertroffen. Wer leitet solche Aktionen in die Wege?
BL: In diesem digitalen Falle war das die „Genossin“ Britta Sommermeyer. Auf der realen Baustelle wiederum haben Nora Weihmann und Thure Wulff die Fäden in der Hand. Wir sind mittlerweile geübt darin, durch permanentes Fragen unsere jeweiligen Fähigkeiten und Wissensspeicher abzurufen und zum richtigen Zeitpunkt die richtige Antwort zu bekommen. Das ist der Mehrwert eines solchen Konstrukts und gleichzeitig anstrengend, weil Zentralwerkerinnen nie wirklich Urlaub vom Zentralwerk haben.
V: Im Mai belohnt Ihr Euch gleich doppelt für die Mühen. Neben der interaktiven Ausstellung „Mitten in der Stadt“ werdet Ihr Gastgeber*innen der Konferenz unabhängiger Kulturzentren in Europa.
BL: Darauf sind wir sehr stolz, denn wir gehören erst seit 2017 zu diesem Netzwerk von 90 Initiativen und befinden uns in exzellenter Gesellschaft, etwa mit dem
Village Underground in London oder dem alten Kabelwerk Kaapeliteh das in Helsinki. Und weil wir eine solche Turboentwicklung hinter uns haben und auch
als Genossenschaft von Kulturschaffenden ziemlich besonders sind, haben wir in dem Erfahrungsaustausch auch wirklich etwas beizutragen.
Das Gespräch führte Susanne Altmann
Alle Termin und Infos hier: zentralwerk.de