STATT #INDIELUFTGEHEN: #ALLEMALANDIELUFTGEHEN
Ausgabe 1/2021
Kolmarer Straße, Berlin, Anfang Mai 2021: Sehe ich recht? Habe ich etwas verpasst? Schaut dort tatsächlich Alexej Nawalny aus dem Fenster? Im ersten Stock links? Zurück in Berlin aus dem Putinschen Straflager Wladimir (sic)? Der Mann bewegt sich nicht, blickt unverwandt in Richtung Wasserturm. Auf der gleichen Etage wie der Russe stehen weitere drei Personen am Fenster: die Iranerin Nasrin Sotoudeh, der Australier Julian Assange und der Türke Osman Kavala. Draußen brodelt ungebremst das Lockdownleben, gar nicht so junge Eltern schieben ihre Kleinkinder durch die Gegend, der Eisverzehr boomt und der Flieder blüht. „Die Balkone“ nannte sich diese künstlerische Irritation des Berliner Künstlers Nasan Tur, eine bittere Paraphrase auf politische Häftlinge weltweit. Bereits der Standort der Arbeit in einem deutschen Wohlstandsviertel ruft Fragen auf. Denn während derlei Gefangene durch einem autoritären Schuldkodex vom öffentlichen Leben ausgeschlossen werden, mokieren sich ganz besonders in Deutschland viele Menschen laut und leise über die Zumutungen des coronabedingten Ausnahmezustands und erklären sich gleich mal zu Gefangenen staatlicher Willkür. Insofern dürfte Nasan Turs Parade der Insassen eine der ausdrucksstärkendsten, künstlerischen Reaktionen auf die Zustände des Jahres 2021 sein. Aus dem allgemeinen Chorus der, ach so gravierenden Defizite unseres Lebens hebt sich diese Stimme wohltuend heraus. Und nicht nur diese. Sprechen wir also einmal nicht über die Mängel und Zumutungen der letzten Monate – sprechen wir über deren Mehrwert. Mit der langfristigen Schließung von Museen und Galerien hat öffentliche Kunst einen Aufschwung erlebt, der ohne die Pandemie kaum denkbar gewesen wäre. Gerade Dresden scheint dabei – und nicht nur aus redaktionellen Gründen – ein Brennpunkt von phantasievoller Public Art geworden zu sein. Gewiss reagieren auch andere Städte mit kreativen Ausflügen in den Außenraum: Das Leipziger Bildermuseum plakatierte draußen aktuelle Kunstwerke aus den eigenen Beständen, der Prado in Madrid folgte mit alten Meistern und Berlin dekorierte jüngst sogar seine Impfzentren mit Sammlungsbeständen der Staatlichen Museen. Doch schon im dunklen Januar tauchten im Dresdner Stadtgebiet riesige Anzeigen auf, mit denen der nigerianische Künstler Emeka Ogboh nach jenen vermissten Kunstschätzen des Königreichs Benin fahndete, die sich in den sächsischen Völkerkundesammlungen verstecken. Inzwischen, und zum Glück, wird dieser Appell von deutschen Restitutionszusagen überholt. Die Ausrichter*innen der Kampagne, löblich: die Völkerkundemuseen selbst, launchten zudem eine Webseite zum Hintergrund der Aktion und kündigten dort an, sukzessive alle so genannten Beninbronzen aus ihren Beständen mit Werkinformationen zugänglich zu machen: http://www.vermisstinbenin.de. Bedauerlicherweise findet man seit Januar dort nur ganze fünf Exponate – aus dem Pool von bekanntermaßen 161 Stücken. Die digital angelegte „Kommentierte Zeitleiste der Benin-Bronzen seit 1897 bis heute“ blieb bis dato gänzlich unbefüllt. Auf Anfrage erklärte sich das arme, mit Ausflüchten überlastete Virus für dieses Manko als nicht zuständig: auch das Internet sei ein weitgehend hygienisch unreglementierter Raum. Ohne sich weiter rechtfertigen zu wollen, verwies der Erreger zur Abwechslung auf ein erfolgreiches analoges Projekt. Mit #mustsee, auch bereits seit Januar am Start, okkupierte die Galerie Ursula Walter eine Werbesäule auf dem Neustädter Markt. Zu Recht in das Bundesprogramm „Neustart Kultur“ aufgenommen, werden dort im Zyklus kommerzieller Plakatierung visuelle Botschaften auschliesslich von Künstlerinnen gezeigt. Den Anfang machte Käthe Kollwitz (1867-1945), die sich auch posthum gewohnt kämpferisch zeigte, mit Zitaten wie „Kraft ist, das Leben so zu fassen wie es ist“ (ein arger Schelm, der hier an den Umgang mit Covid denkt). Unterstützt wurde die Künstlerin dabei durch den namhaften Gestalter Jochen Stankowski. Er übersetzte drei markante Sätze in weithin sichtbare Typografiken. Diese zeigten nicht die Grafikerin, sondern die reflektierte Denkerin und unermüdliche Tagebuch- bzw. Briefschreiberin, mit dem Drang, Gegenwart und Geschichte zu verstehen und ihr persönliches Schicksal am Lauf der Welt zu relativieren. Nicht weniger aktuell kam die nächste Kunstrotation daher, verfasst von der Victoria Lomasko, die Kollwitz übrigens als ihre Leitfigur begreift. Die zeichnende Aktivistin aus Russland dokumentiert seit Jahren das grassierende Unrecht in ihrer Heimatregion. Für ihren Beitrag zu #mustsee reiste sie nach Belarus und kam mit einem Triptychon zurück, das nicht nur die mutigen Proteste dort anspricht, sondern auch deren Wurzeln in postsowjetischen Missständen. Nach Auftritten von Isabelle Krieg, Britta Bogers, Ulrike Grossarth und Mirjam Kroker, befindet sich in Kürze eine Arbeit der Künstlerinnengruppe neozoon in der Umlaufbahn. Noch koinzidierend mit ihrem Beitrag in der Ausstellung „Future Food“ (bis 23.8. im Deutschen Hygiene-Museum Dresden), haben sich die Expertinnen für beherztes Mediensampling kurz vom Bewegtbild abgewandt, auf ihre Herkunft aus der Street Art verweisend. Unter dem Titel „FragMants“ (wie in: Fragment und man/Mensch) rekrutierten sie drei Figuren aus ihrer gleichnamigen Videoinstallation von 2019. In der Manier der surrealistischen Zeichentechnik des cadavre exquis und in geradezu Frankensteinscher Synthese haben neozoon aus Bildern von Körperteilen bizarre Lebewesen zusammengeflickt. Die Vorlagen dafür stammen aus Kurzvideos von Influencer*innen, die sich Konsumwahn und Produktfetischismus verschrieben haben. Da sich das nachpandemische Einkaufsverhalten derzeit heftig intensiviert, bildet „FragMants“ einen höchst passenden Einstieg in die jetzt wohl anbrechende Normalität. Darüber sollten wir freilich nicht vergessen, wieviel Freude und Stoff zum Nachdenken uns weitere Maßnahmen im urbanen Freiraum während des letzten Jahres geliefert haben: Sei es der temporäre und äußerst reinigende Kehraus „Heimat – Mein Land wird gerecht“ von Dada Vadim im Zwingerhof gewesen und oder die Langzeit-Verhüllung „Kostbar“ einer Baumaßnahme am Hauptbahnhof, entwickelt von Judy van Luyk. Das Kunsthaus Dresden hat seine Aktivitäten zunehmend in die Schrebergartensparte Flora I verlagert und etwa mit herrlichen Gartenkonzerten, einer Holzskulptur von Olaf Holzapfel oder der handwerklichen Köhler-Performance von Ulrike Mohr Entscheidendes nicht nur für unsere Erbauung getan, sondern auch die Weichen für gelebte Nachhaltigkeit gestellt. Und da wir gerade beim städtischen Aktivismus sind, bleibt nur zu wünschen, dass die kollektive Besetzung der vormaligen Robotron-Kantine im Lingner-Areal bald zu einem amtlich sanktionierten Happy End führen möge. Gestalterische Eingriffe von Ina Weise, André Tempel und Henning Haupt bekräftigten die Ansprüche der Kunstszene auf das Gebäude, im Wortsinne kulminierend mit Stephanie Lünings schwarzrotgelber Schaumperformance auf der Treppe des Gebäudes. Hier haben die zahllosen, bis dahin künstlerisch unterernährten Zuschauer*innen quasi mit dem Füßen abgestimmt: Nicht nur als Baudenkmal aus DDR-Zeiten soll das Werkrestaurant der sozialistischen Datenverarbeiter erhalten bleiben, sondern als dauerhafter Ort für die Gegenwartskünste. Mit seinen Displaymöglichkeiten auf dem Dach, an der Fassade und in den Fenster hat die Kantine ihre Lockdowntauglichkeit allemal bewiesen.
Susanne Altmann
www.galerieursulawalter.com">www.galerieursulawalter.com
www.davidadam.de">www.davidadam.de