Männer in dunklen Anzügen

Autorität und Ritual in politischer Kunst

Männer in dunklen Anzügen

von Susanne Altmann

Sie sind begeistert und bewegt sind von dem, ja: Universum des Künstlers William Kentridge, das zur Zeit gefühlt die gesamten Staatlichen Kunstsammlungen Dresden einnimmt? Ein guter Moment für die Frage: Wann nehmen wir Kunst als politisch wahr – und zugleich als gelungen? Mit ­Kentridge begegnet uns der seltene Glücksfall, dass die künstlerische Form nicht die aktivistischen Botschaft verstellt (bzw. umgekehrt). Im Gegenteil. Vielleicht haben Sie sich, wie auch ich seit Jahren, gefragt, wo entlang die feinen Linien verlaufen, die Nur-Kunst von engagierter Kunst, die kreative Propaganda von ästhetischer Dringlichkeit trennen. Ob es solche Linien überhaupt gibt? Vorab: Ich kann diese Frage gar nicht beantworten.

Sehen wir uns trotzdem einmal um: Zunehmend verstehen wir politische Kunst als öffentliche Kunst. Digitale Kanäle suggerieren eine so erhebliche wie schwer nachprüfbare Reichweite. Kaum mehr wird diskutiert, ob die gewählte Gestaltung dem propagierten Anliegen entspricht. Fast fühlt es sich reaktionär an, die Form zu analysieren. Von dieser Befangenheit profitiert das Zentrum für politische Schönheit (ZPS) um den Künstler Philipp Ruch. 2017 erregte das ZPS Aufsehen, als es eine Replik des Berliner Holocaust-Denkmals sozusagen in Björn Höckes Thüringer Vorgarten stellte. Das war eine durchaus pointierte skulpturale Setzung gegen AfD-Ideologien, weithin verstanden, auch als künstlerische Lösung.

Zwei Jahre zuvor zuvor jedoch ließ das ZPS den Leichnam einer im Mittelmeer ertrunkenen, syrischen Geflüchteten öffentlichkeitswirksam in Berlin beisetzen. Sechs Männer in dunklen Anzügen trugen einen weißen Sarg, offenbar Mitarbeiter eines Bestattungsunternehmens. In dem ungewöhnlichen Umfeld bestätigte die Bekleidung der Träger die Autorität des Rituals, aber auch die Zeremonie als ein Ready Made. „Die Toten kommen“ hieß diese symbolisch reparative Grablegung. Auf Fotos sind trauernde Menschen zu sehen und fast noch mehr Mikrofone und Kameras. Auch zwei leergebliebene Sitzplätze, reserviert für Bundeskanzlerin und Innenminister, wurden effektvoll dokumentiert. Der Webauftritt zu „Die Toten kommen“ besteht zum Großteil aus Presseberichten und Statements. Ein Update der Sozialen Plastik von Beuys?

Damals brach eine hitzige Debatte los, erinnernd an Reaktionen auf Projekte von Christoph Schlingensief (1960-2010). So grenzgängerisch dessen Spektakel gewesen sein mögen, stets waren sie von einer erkennbar bühnenhaften Form gehalten. Stilmittel wie Verfremdung, Projektion und Fiktion gehörten dazu – und Selbstironie. Durch letztere wirkte er meist authentisch und verletzlich. Nie beanspruchte dieser Seiltänzer zwischen Bühne, künstlerischer Performance und Massenchoreographie die absolute Wahrheit für sich. Momentan zeigt die Sammlungs­ausstellung der Neuen Nationalgalerie in Berlin Schlingensiefs Aktion „Deutschland versenken.“ An jenem neunten November 1999 vollführte er an geschichtsträchtigen Orten in New York, Freiheitsstatue und Times Square inklusive, performative Handlungen. Er kleidete sich wie ein orthodoxer Jude – die Kostümierung blieb erkennbar. Ein Mann im schwarzen Anzug. Es ging um deutsche Schuld und Identität, ein auf den ersten Blick wilder Mix aus Anspielungen und Zitaten, mittlerweile ein Klassiker. Wie ein Alchimist braute er aus widersprüchlichen Zutaten seine Werke zusammen, auf unvorersehbare Reaktionen setzend. An seinen Auftritten verstand ich damals vieles nicht. Vielleicht irritierte mich (uns?) ja auch die ständige und programmatische Anwesenheit von Zweifel und Scheitern in seinem Schaffen.

Zweifel und das mögliche Scheitern – das sind zwei Konstanten in der Praxis des „Center for the Less Good Idea“, gegründet vor zehn Jahren in Johannesburg von William Kentridge und Bronwyn Lace. Im September stellte sich das Zentrum live in Dresden vor: Eine fluide, demokratisch aufgestellte Kreativgemeinschaft, die die „weniger gute“ Idee feiert. Denn kommt die erste, gute Idee nicht oft zu apodiktisch daher? Und ist nicht der Weg dorthin oft viel zu gerade und langweilig? Kentridges eigene Methode, visuelle Abläufe zu korrigieren, auszuradieren oder zu überformen wirkt da wie eine Direktive für das Ensemble. Ähnlich wie Schlingensief führt sich der Südafrikaner immer wieder selbst auf und vor. 1994 porträtierte er sich in der gezeichneten Animation „Felix in Exile“: ein nackter, untersetzter weißer Mann mittleren Alters. In einem kargen Setting entsteht eine so schmerzliche wie poetische Reflexion zur Apartheid in Südafrika, die damals gerade (strukturell) zuende ging. Immer wieder werden persönliche Verstrickungen von Felix mit Szenarien des Elends und Unrechts an der schwarzen Bevölkerung überzeichnet. Das Selbst des Weißen wird zum Gleichnis für Schuld, unüberbrückbare Distanzen, Privilegien. Keine Selbstdarstellung im konventionellen Sinne, sondern eine Selbstaussetzung. Das Private ist alternativlos politisch bei Kentridge. Dafür gibt es wenig kunsthistorische Bezüge, vielleicht nur noch bei Käthe Kollwitz oder Otto Dix. Kentridge hat die eigene Typisierung völlig uneitel perfektioniert, ein habituelles Logo: stets in weißem Hemd und schwarzer Hose. Das permanente Schwarzweiß könnte eine Paraphrase auf seine bevorzugten Medien: Kohlezeichnung, Druckgrafik und Schattenprojektion sein. Zudem klingt in diesem personifizierten Chiaroscuro das werkstiftende Verhältnis von Schwarzen und Weißen in dessen gesellschaftlicher und planetarischer Dimension an. Zu weit gedeutet? Auf alle Fälle praktizierten Kentridge und sein Umfeld schon postkoloniale Kritik, als diese in der Kulturszene noch nicht en vogue war.

Bei manchen öffentlichen Auftritten trägt er zusätzlich ein schwarzes Jackett und einen schwarzen Hut. So wie jüngst in Dresden, als er die Prozessionsperformance „Foot Power“ anleitete. Ein Herr im schwarzen Anzug, gar nicht soo auffällig unter all den Akteur*innen des „Center for the Less Good Idea“ und hunderten Teilnehmer*innen. Wann immer Kentridge Regie führt, achtet er auf Spielräume für Improvisation. Die Optik des Experimentellen zieht sich durch jedes Genre, ob Film, Bühne, Radierung oder Zeichnung. Eine weitere Maxime des „Centers for the Less Good Idea“ lautet „to give the image the benefit of the doubt.“ Sinngemäß bedeutet das, dem Bild einen Vertrauensvorschuss zu geben und damit ungeplante Wendungen zu fördern.

Dieser stilprägende Ansatz erfrischt in einer Zeit, in der die eigene Meinung allzuoft ungefiltert als unverrückbare Haltung postuliert wird – obwohl sie gerade noch ein bloßes persönliches Gefühl des Unbehagens war. Aus dem Käfig solcher Postulate führt kaum ein Weg hinaus. Darin liegt, für mich, auch das Problem einiger Aktionen des ZSP. Ein verfestigtes Sendungsbewusstsein lässt wenig Spielraum für den Zweifel, und sei es nur jener an der künstlerischen Erscheinungsform.

Der in Dresden wohlbekannte Künstler David Adam führt diese bedrückende Symptomatik des selbstgeschaffenen Käfigs am eigenen Leibe vor, mit der öffentlichen Performance „Tabula Phrasa“ in Berlin und anderswo. Erneut erscheint hier ein Herr in noblem Schwarz, mit markanter Sonnenbrille. Schon seit 2018 tritt Adam in dieser Uniform auf – zwischen Autorität und stabiler Marke. Eine gute Idee, gewiss, und zudem hochkompatibel mit dem Bilderdruck von Instagram & Co. Derart gewandet, watete der Künstler bereits durch die Elbe gen Kunsthochschule oder harkte als „Heimatschützer“ den Innenhof des Zwingers. Als „Bürgerdenkmal“ sockelte er sich zum dreißigsten Jubiläum der Friedlichen Revolution im Stadtzentrum auf – eine symbolische Projektionsfläche für erinnerte Rollen von einst. Ganz anders als bei den vorgenannten Ritualen der Demut, blinkte hier die Gefahr der Selbstdarstellung im Dienste eines politischen Denkanstoßes auf. Die (üb)erhöhte Kunstfigur schien sowohl den formalen Anspruch an ein Kunstwerk wie auch dessen inhaltlichen Impuls zu untergraben – zugunsten eines Gimmicks. Selbstironie hin und Sockel her. Für „Tabula Phrasa“ (seit 2024) umgibt sich David Adam nun physisch mit politisch konnotierten Begriffen, die sich in Tagespolitik und Kommentarspalten abnutzen: Staatsräson, Grundgesetz, Status Quo, Selbstverteidigung, Völkerrecht, Sicherheitsrat sind einige von 430 Begriffen, die er als Bausteine rund um sich selbst aufschichtet. Wenn Passant*innen in Yenga-Manier genug Klötzchen aus dem fragilen Konstrukt entfernt haben, stürzt dieses (Überraschung!) ein und gibt den Blick auf den Anzugträger frei. Ein kalkulierter Slapstick-Moment, der – wiederum: für mich – das Ringen um eine Haltung zeigt, die Vergeblichkeit von Kommunikation und schließlich, das Scheitern von Gewissheiten. Wie sind Ambivalenzen auszuhalten, im Wirrwarr zwischen Emotionen und Informationen? Ein so absurdes wie tragfähiges Bild, mitsamt dem derangierten Konstrukteur in der Mitte. Universell und unbequem.

In einem Videoclip auf Instagram wartet eine einzelne junge Frau am Käfigturm. Als die Kamera sie erfasst, zieht sie Begriffe heraus, schon beim dritten Baustein fällt der Turm. Der Künstler hockt in den Trümmern. Die junge Frau hat schwarze Locken und braungebrannte Sommerbeine, es ist wohl sehr warm. Über der rechten Schulter trägt sie, wie zufällig drapiert, eine Kufiya. Sie braucht das Palästinensertuch nicht gegen Kälte, es gehört zur Inszenierung. Denn die Arbeit bezieht sich nicht auf das aktuelle globale Leid zwischen Kharkiv und Gaza, zwischen Khartoum und Kathmandu, sondern speziell auf Begrifflichkeiten zum „Krieg in und um Israel, Gaza und die weiteren von Israel besetzten palästinensischen Gebiete“ sowie auf die Rolle Deutschlands darin. Plötzlich wirkt dieser deutsche weiße Mann im dunklen Anzug wie ein Oberlehrer, der seinen Stundenplan erfüllt hat. Ob beabsichtigt oder nicht: Touché.

William Kentridge, „Listen to the Echo“ in den SKD:

bis 04.01.2026 im Albertinum

bis 15.02.2026 im Kupferstichkabinett

bis 28.06.2026 Puppentheatersammlung

„Felix in Exile“: https://vimeo.com/66485044

Deutschlandsuche ‘99: www.schlingensief.com

davidadam.de

https://politicalbeauty.de/die-toten-kommen.html

1 Dazu Gesine Borcherdt unlängst: „Es ist ein komplex-genialer Verweiskosmos, mit dem Schlingensief Kunstgeschichte geschrieben hat. Der Artikel reagierte auf die Protestaktion der aus Südafrika stammenden, jüdischen Kunstaktivistin Candice Breitz. Sie prangerte diese, für Schlingensief so typische Maskerade als inakzeptable, ja: gewalttägige Aneignung des Jüdischseins an - und verkleidete sich kurzerhand auf einem Podium als Schlingensief im Rabbikostüm, fügte allerdings noch einen Schal in den deutschen Farben hinzu. Mit ihrem mindestens dreifach kodierten Protest dürfte Breitz die Neugier eines jüngeren Kunstpublikums auf das Werk Schlingensiefs geweckt haben. https://www.welt.de/kultur/article256412354/verkleidet-als-orthodoxer-jude-candice-breitz-tappt-in-die-falle-der-kulturellen-aneignung.html