Ein Spaziergang unter Schwestern – Rotterdam zu Fuß verstehen
Ausgabe 3/2023
von Susanne Altmann
Wer von Ihnen würde an einem sonnigen Sonntagnachmittag, parallel zu einem Fußball-Halbfinale von nationaler Tragweite, auf der Prager Straße bummeln gehen? Ich nicht, soviel steht fest. In Rotterdam, unter dem Deckmantel kulturgeschichtlichen Interesses, Autorin allerdings beherzt los. Was Dresden mit der taffen Hafenstadt verbindet, ist nicht der Alberthafen. Es ist das stadtbildprägende Schicksal zweier massiv kriegsversehrter Metropolen, das 1988, also noch zu DDR-Zeiten, zu einer (damals grenztechnisch ziemlich abstrakten) Verpartnerung führte. Dabei gibt es in den Niederlanden eine Unterscheidung zwischen bloßen Partnerstädten und ausgesuchten Schwesterstädten. Das klingt gleich viel verbindlicher und Dresden gehört dazu.
Obwohl die politischen Ursachen der flächendeckenden Zerstörungen zwischen 1940 und 1945 sehr verschieden und von einem historischen Schuldgefälle auf deutscher Seite geprägt sind, so war doch der Umgang mit den Verheerungen anfangs sehr ähnlich. Große urbane Räume waren wieder zu zivilisieren und mit einer Infrastruktur zu versehen. Rotterdam indes hatte einen gewissen „Vorteil“ bei all dem Elend – es hatte weit weniger geschichtliche Verpflichtungen zu beachten als die sächsische Residenz mit ihren zahlreichen Insignien einer so genannten Kunststadt. Dresden ringt noch immer mit der denkmalgerechten Herrichtung von Architekturen und Ensembles, so teuer und bisweilen übersteigert nostalgisch das auch sein mag. Rotterdam hingegen hat unmittelbar nach Kriegsende die Flucht nach vorn gewagt und seine Innenstadt als Tabula Rasa begriffen.
Der Bau der ersten autofreien Fußgängerpromenade, der Lijnbaan, begann hier bereits 1949. Ein Jahr zuvor übrigens siedelte Mart Stam (1899-1986), holländischer Kommunist und vehementer Vertreter der funktionalistischen Moderne, nach Dresden über, wo er die Fusion der hiesigen Kunstakademie mit der Hochschule für Werkkunst in Angriff nahm. Überhaupt versprach er sich vom Klima in der sowjetischen Besatzungszone ein Höchstmaß von künstlerischer Freiheit. Darin irrte der innovative Architekt und Designer. 1952 kehrte Stam, nach einem erfolglosen Abstecher ins Rektorat der Kunsthochschule Berlin-Weißensee, desillusioniert und von Formalismusdebatten genervt, in seine Heimat zurück. Wäre er nur dort geblieben, möchte man aus heutiger Sicht naseweis raten.
Denn inzwischen, und besonders in Rotterdam, waren die Weichen für das neue Nachkriegsbauen gestellt. 1953 eröffnete die Lijnbaan, die heute noch ihrer Aufgabe, frei nach Goethe, nachkommt, so etwas wie „des Volkes wahrer (Konsum)Himmel“ zu sein. Im Bezug auf das dazugehörige Gewimmel an einem Sommersonntag stellt sie eine echte Herausforderung für Architekturfreund*innen dar. Nicht nur Menschenscharen, sondern das Gefühl, jedes zweite Gebäude sei die Filiale einer Fast-Fashion oder -Food-Kette, überlagert die Freude an einem Bausensemble, das – obgleich aus strengen Kuben zusammengesetzt – von Anfang an ein menschliches Maß aufwies. Als ich vor gut zwanzig Jahren endlich einmal die berühmte Einkaufszone sehen wollte, die bekanntermaßen als Inspiration für die Prager Straße gedient hatte, war ich verblüfft, wie so gar nicht monumental diese Straße konzipiert war. Die geradezu unwirtliche Hypertrophie der späteren Schwesterpromenade in Dresden, die sich schnurgerade durch die – Ende der 1960er noch sehr ruinöse – Altstadt schlug, wirkte auf viele Einheimische wie ein sozialistischer Willkürakt. Während wir heute – so hoffe ich doch – durchaus die gute Absicht dahinter verstehen und den Kulturpalast als demokratische Krönung dieser Herrschaftsachse wieder ins Herz geschlossen haben, war der radikale Eingriff damals für viele Einheimische enorm schmerzhaft, fast wie ein zweites Trauma nach dem Bombardement. Doch was hatten sie sich vorgestellt? Eine Prachstraße voller Banken und schicker Cafés? Das hatte Otto Dix mit seinem ätzend sarkastischen Gemälde „Prager Straße“ (Kunstmuseum Stuttgart) bereits 1920 ad absurdum geführt. In einem sowjetkommunistisch gestimmten Arbeiterparadies wäre das eh keine Option gewesen. Der Phantomschmerz freilich, das Leiden am Verlust des Fritz Löfflerschen „Alten Dresdens“ bestimmt heute noch die Polemik und Praxis von konservativen, selbsternannten Stadtbildpflegern.
In Rotterdam war offensichtlich keine Zeit – und auch kein baulicher Grund – diese Art von Wunden zu lecken. Mit großen Schritten und allerlei ästhetischen Stolpereien gab sich die zweitgrößte Stadt der Niederlande ein neues Outfit. Mit dabei war übrigens stilprägend Lotte Stam-Beese (1903-1988), Bauhausschülerin und erste Frau von Mart Stam. Sie hatte sich dem sozialen Wohnungsbau verschrieben und bekleidete bis 1968 einen führenden Posten im Stadtplanungsamt. Während in Dresden traurig über Traufhöhen meditiert wurde, schossen in Rotterdam die Hochhäuser ins Kraut, anscheinend unreguliert und bis heute zur großen Freude von so genannten Stararchitekten. Solitärbauten mit Hang zur Skulptur waren angesagt. Sobald man die gemütliche Traufhöhe der Lijnbaan verlässt, kippen Glasfassaden bedrohlich nach vorn, öffnen sich gewaltige Durchgänge, widerstreben würfelförmige Wohnkomplexe der Schwerkraft, winden sich knallgelbe Röhrenbündel vom Dach einer Stufenpyramide nach unten, schweben Bahnhofsdächer wie UFOs durch die Landschaft und behaupten brutalistische Festungen ihre Stellung. So sieht’s aus bei unserer Schwester zuhause. Faszinierend vielfältig. Ganz schnell wird klar, dass hier die Suche nach einem irgendwie harmonischen Stadtbild völlig überflüssig ist, und dass sich Geschmacksurteile je nach Straßenecke um 180 Grad drehen können.