Die tägliche Widerrede oder Gründe, vom Sofa herunterzukommen
Ausgabe 2/2023
von Susanne Altmann
Eine Stimme aus dem Jenseits, eine Bestandsaufnahme und ein Abschied:
„Mir stellt sich deshalb schon lange die Frage, ob wir alle nicht viel zu viel den Politikern überlassen. Ich habe meine tägliche Arbeit immer als eine sehr politische betrachtet betrachtet; man erreicht eben unendlich viele Menschen, wenn man im weiten Bereich der Kultur tätig ist.“
Ein Abschied, der gleichzeitig wie ein Appell oder ein Aktionsplan klingt. Die Stimme gehört(e) Martin Roth, Kulturmanager und Chef markanter europäischer Kultureinrichtungen bis zu seinem Tod 2017. In dem Gesprächsbuch Widerrede!, aus dessen Vorrede das Zitat stammt, wandte er sich an seine drei Kinder, denen er damit noch ein letztes Mal sein engagiertes Handlungsmantra nahelegte und sie, in aller Öffentlichkeit, an ihre politische Verantwortung als privilegierte Weltbürger*innen erinnerte. Natürlich, sonst wäre das Traktat Makulatur, adressierte Roth im gleichen Maße uns, seine Leser*innen, die sich wohl mehrheitlich in ebenjenen Gefilden der Kultur bewegen und sich bereits a priori als weltoffen und demokratiebewusst verstehen. Oder?
Dass eine Initiative, gegründet 2018 durch das Goethe Institut (GI) und das Institut für Auslandsbeziehungen (ifa), seinen Namen trägt, ist kein Zufall. Und es wirkt, bei aller Tragik der globalen Umstände, fast tröstlich, dass die Aktivitäten der Martin-Roth-Initiative (MRI) derzeit besonders in Sachsen, als dem deutschlandweit medial wohl am meisten stigmatisierten Bundesland, an Fahrt gewinnen. Wahrscheinlich hat das auch damit zu tun, dass die geopolitischen „Einschläge“, im Wortsinne, immer näher rücken. Während Roth, vormaliger Direktor des Londoner Victoria & Albert Museums, seinerzeit noch von den Menschenrechtsverletzungen im Nahen Osten und vor allem vom Austritt Großbritanniens aus der europäischen Staatengemeinschaft schockiert war, würde ihn die derzeitige Weltlage sicher noch mehr mit Zorn und Handlungsbedürfnis erfüllen. Nicht, dass er die neototalitäre Ausrichtung Russlands und die Folgen nicht geahnt hätte, denn er warnte:
„Und wir neigen sogar dazu – ich denke an Russland – , Länder in einer gewissen Weise zu akzeptieren, deren innere Verhältnisse nicht akzeptabel sind. Das sind alles Gründe für mich, vom Sofa herunterzukommen.“
(Widerrede!, Stuttgart 2017, S.48)
Die MRI hat ihn beim Wort genommen und bietet seit etwa fünf Jahren Künstler*innen, die in ihren Heimatländern gefährdet sind, aus politischen und/oder sozialen Gründen, eine Zuflucht an. Und zwar nicht nur für ein paar Monate wie sonst üblich, sondern mindestens für ein Jahr. Neu zu den schutzbedürftigen Kulturschaffenden aus Afghanistan, dem Sudan oder Libyen etc. hinzugekommen sind Leidtragende, sozusagen, aus Russland und Belarus. Um einem möglichen Einwand zuvor zu kommen: Natürlich erleiden derzeit alle Ukrainer*innen entsetzliche Zumutungen, von einer Einschränkung der Kunstfreiheit aufgrund politischer Haltung und/ oder geschlechtlicher Identität kann dort kaum die Rede sein. So richtete das „Mistetskyi Arsenal“ in Kyiv, auch Schauplatz einer noch jungen Biennale, bereits im März 2021 über siebzig (!) belarussischen Künstler*innen die Ausstellung „Every Day. Art. Solidarity. Resistance“ ein, kuratiert u.a. von den vortrefflichen Kolleginnen Antonina Stebur und Marina Nabrushkina. Die Schau verstand sich als empörte Reaktion auf die gefälschten Wahlen im benachbarten Belarus 2020 und die folgenden Proteste im Land, die zu weiten Teilen von Künstler*innen (und von Frauen) organisiert und getragen wurden – und in staatlichen Repressalien geradezu stalinistischen Ausmaßes mündeten. Mit dabei – bei den Demonstrationen und der Kyiver Ausstellung – war das Künstler*innenpaar Antonina Slobodchykava und Mikhail Gulin aus Minsk.
Nebenbei, es fühlt sich geradezu unheimlich an, heute die Webseite von „Every Day...“ (diesen Slogan riefen die belarussischen Demonstrant*innen, um klarzustellen, dass sie ab jetzt „jeden Tag“ auf die Straße gehen würden) zu besuchen, wie eine ferne Botschaft aus einer friedlichen, solidarischen und vitalen Ukraine. Antonina Slobodchykava jedenfalls hatte 2020, noch vor den Wahlen und eher als Selbstermutigung, jenes Piktogramm gestaltet, das unversehens ein allgegenwärtiges Symbol der unabhängigen Gegenkandidat*innen zu Lukaschenkos autokratischem Regime wurde: ein Herz, kombiniert mit einer Faust und einem Siegeszeichen. Ihr Partner Mikhail Gulin war schon 2012 wegen seiner (angeblich) provokativen Performance auf dem Unabhängigkeitsplatz in Minsk angeklagt worden und seines Lehramts verlustig gegangen. 2020 setzte er sich für die Nominierung von Viktor Babariko für das Präsidentenamt ein und beteiligte sich aktiv an großen Aktionen, mit seiner Frau auch an der Versteigerung zugunsten unterdrückter belarussischer Künstler*innen am Moskauer Moskauer Auktionshaus Vladey – in der heutigen Situation ganz klar undenkbar.
Denn Putins Krieg in der Ukraine ist ebenso ein Krieg gegen kritische Stimmen im eigenen Land. Die Zeichnerin und Grafikerin Victoria Lomasko war sich der Gefährdung schon sehr zeitig bewusst: Neun Tage nach dem russischen Angriff bestieg sie auf dem Moskauer Flughafen Scheremetjewo „eine kleine, alte Maschine nach Bischkek, die wohl wegen eines Motorschadens die ganze Zeit torkelte. Ich dachte: Wenn wir jetzt abstürzen, dann ist das immer noch besser als in einem abgeschotteten Land unter einer Diktatur zu leben.“ Lomasko weiß sehr genau, wovon sie spricht, zeichnete sie doch seit mindestens 2010 als Gerichtsreporterin im Eigenauftrag die großen politischen Prozesse in Moskau auf, die Blasphemie-Anklage gegen die Kuratoren Juri Samodurow und Andrej Jerofejew oder, noch prominenter, die Gerichtstermine von Pussy Riot. Als Graphic Novels sind diese deprimierenden Aufzeichnungen unterdessen weltweit erschienen. Nach einer kreativen Odyssee über Kassel, Stuttgart und Brescia, lebt Victoria Lomasko momentan in Leipzig. Wie die beiden Minsker ist auch sie Gast der Martin Roth-Initiative. Die MRI legt Wert darauf, dass die Stipendiat*innen jeweils von lokalen Institutionen betreut und begleitet werden – in Leipzig ist das die Galerie für zeitgenössische Kunst.
Für Gulin und Slobodchykava in Dresden sind das die Staatlichen Kunstsammlungen, mit dem Japanischen Palais als Hafen. Barbara Höffer, Kunsthistorikerin und Standortleiterin der ethnografischen Sammlung, empfindet sichtlich Freude über die Anwesenheit der Belaruss*innen: „Eine unserer vornehmsten Aufgaben ist ja der transkulturelle Dialog. 2021, in unserer Ausstellung Sprachlosigkeit – Das laute Verstummen haben wir bereits kollektive Traumata aus künstlerischer und aktivistischer Sicht untersucht. In einer Veranstaltung mit der belarussischen Philosophin Olga Shparaga ging es um die bedrückende Situation in ihrem Heimatland. Es ist gewiss kein Zufall, dass Antonina Slobodchykavas berühmtes Logo auf dem Cover von Shparagas Buch Die Revolution hat ein weibliches Gesicht. Der Fall Belarus zu sehen ist. Wenn wir im Verlauf des Jahres unsere Gäste präsentieren – auch in einer Ausstellung – dann knüpfen wir genau daran an.“ In diesem Sinne (und dem von Martin Roth) wird es künftig im Damaskuszimmer zu Begegnungen mit den MRI-Gästen kommen, zu denen übrigens auch die pakistanische Filmemacherin Akifa Mian gehört, derzeit an der HfBK. Zunächst jedoch – so viel produktives Verweilen auf dem Sofa, besser: den Diwanen, dürfte dem geistigen Paten auch gefallen – stellen sich Antonina Slobodchykava und Mikhail Gulin vor.
1+1=1. Artists Talk mit dem belarussischen Künstler*innenpaar
Antonina Slobodchykava & Mikhail Gulin
(mod. Susanne Altmann)
Zeit: Do, 27. April 2023, 19 Uhr
Ort: Damaskuszimmer, Japanisches Palais Dresden (SKD)