DIE FREIHEIT AM ENDE DER FAHNENSTANGE – Zu einer künstlerischen Signalkette zwischen Hanoi, Dresden und Seoul
Ausgabe 1/2022
von Susanne Altmann
„White Noise“ – „Weißes Rauschen“: Das sind geballte Signale ohne Signalwirkung, Störungen in vermeintlich intakten Systemen. Akustisch erzeugtes weißes Rauschen wird zur Therapie von Tinnitus eingesetzt, denn in seiner massiven Gleichförmigkeit überlagert es Störgeräusche, ohne sich in den Vordergrund zu drängen. In der elektronischen Musik ist das White Noise eh ein alter Hut, auch dort dient es als Filter oder als Konstante im Soundteppich. Was wäre dann „White Distance“, „Weiße Distanz“ – ebenfalls ein naturwissenschaftliches Phänomen? Wohl eher ein soziales und kulturelles, das aber ähnlich wie das physikalische Pendant, sowohl nervig wie auch hilfreich sein kann. Dabei existierte dieser Begriff bis vor Kurzem nur im Kopf von Tuan Anh Nguyen. Der Leiter des Kunstzentrums Heritage Space in Hanoi/ Vietnam empfängt normalerweise internationale Kunststipendiat*innen und organisiert vor Ort das Kunstfestival MAP (Month of Art Practice/ Monat der Kunstpraxis).
Doch seit letztem Jahr geht es ihm wie allen überregional operierenden Kulturproduzent*innen weltweit: Ein Virus und dessen Abkömmlinge legten sich quer zu allen Plänen. Und die Auswirkungen ähnelten verteufelt dem eingangs beschriebenen Rauschen: globale (einigermaßen) funktionierende Systeme werden erheblich gestört und auf der anderen Seite erzeugen kontinuierlich einströmende Probleme neue Lösungen. Allein aufgrund der verordneten Abstände, vulgo: distancing, boomt(e) die digitale Nähe. Also beschloss Nguyen, sich die ungewöhnliche Situation als „White Distance“ vorzustellen und das Beste daraus zu machen. Das diesjährige MAP-Festival ging daher als „weiße Entfernung“ an den Start, ohne physische Präsenz der Künstler*innen, aber durchaus mit präsenten Kunstwerken. Vielleicht sogar ein wenig erfinderischer und ambitionierter als sonst. Warum das der Fall ist und warum derzeit vor dem Goethe Institut in Dresden ungewöhnliche Fahnen wehen, wollte die Autorin (SA) herausfinden. Deshalb taf sie sich mit Tuan Anh Nguyen (TAN) sowie den beiden Künstler*innen Heaven Baek (HB) aus Südkorea und Daniel Rode (DR) aus Deutschland, selbstverständlich virtuell. Distanzen spielten bei dem Gespräch eine äußerst produktive und unterhaltsame Rolle.
SA: Daniel, bevor sich die beiden anderen zuschalten: Was hat es mit Dir und Vietnam auf sich?
DR: Ich war 2017 als Stipendiat der Kulturstiftung des Freistaats Sachsen in Hanoi, als Gast von Tuan im Heritage Space. Eine großartige Atmosphäre, ich fühlte mich sofort eingebunden. Dort habe ich auch Heaven kennengelernt, mit der ich in Kontakt blieb und auch nächstes Jahr ein Projekt in Seoul plane. Aber zunächst wurden wir erneut nach Hanoi eingeladen, um 2021 am MAP Festival teilzunehmen. Dabei war natürlich rasch klar, dass wir nicht reisen konnten.
SA: Trotzdem habt Ihr beschlossen, nicht nur im Cyberspace aktiv zu werden, sondern in allen drei Städten Euer „Flags Fly“ - „Fahnen fliegen“ öffentlich aufzuführen. Das Format hat sehr viel mit Deinen aktuellen Schriftarbeiten in Außen- und anderweitig zugänglichen Räumen zu tun.* Wahrscheinlich gehst Du bereits mit diesem Sucher nach passenden Orten durch die Gegend?
DR: Wir wollten eine sozusagen niederschwellige Lösung. Die beiden Fahnenmasten vor dem hiesigen Goethe Institut waren ideal. Wir bekamen problemlos und rasch die Unterstützung des Hauses. Und deshalb wehen die Flaggen auch seit Anfang Dezember an der Königsbrücker Straße.
SA: Genauso wie vor dem Nationalmuseum in Seoul und am Eingang des Heritage Space. Während Du, Daniel, in Fahnenstangen auch Zeichen von autoritärer Propaganda siehst, sind Dir, Heaven, ganz andere Assoziationen gekommen. Assoziationen, die mit dem anhaltenden Schwebezustand durch Covid zu tun haben...
HB: Ja, mich amüsiert geradezu, wie Menschen immer erwarten, dass sich endlich irgendwas ändert. Dabei haben wir momentan gar keinen Einfluss auf die Lage. Es gibt aber auch kein System, dem man die Schuld dafür geben kann. Wir lernen ständig, uns anzupassen und mit der Ungewissheit umzugehen. Die Fahne ist da für mich eher ein Symbol der Entgrenzung, nahe an der Natur. Am Himmel existieren keine Beschränkungen und auch der Wasserfall, den ich auf die Fahnen gesetzt habe, setzt sich darüber hinweg. Überhaupt, Wasser: Da gibt es keinen Fluchtpunkt, nichts woran man sich permanent orientieren könnte. Das beschäftigt mich seit Beginn der Pandemie, dass kein Ende in Sicht ist. Naturphänomene zu verstehen hilft uns, diese Lage zu verstehen. Auch der Wind gehört dazu, der die Fahnen bewegt.
SA: Deine Erläuterung klingt fast wie ein Gedicht. Poesie als Heilmittel tut in Notzeiten immer gut. Daniel, Du gehst mit Deinen Schriftarbeiten wesentlich nüchterner an die Frage heran. Tuan hat dazu sinngemäß gesagt: „Bei Daniel ist der Zeigemodus ist ziemlich kühl, im Freien stehend – so wie die Dinge eben sind.“ Das klingt so rational, wie Otto Dix einst die Neue Sachlichkeit erklärt hat.
DR: Ich wollte den Text so wenig poetisch wie nur möglich halten. „You just have nothing to lose thats it“ - etwa: „Du hast einfach nichts zu verlieren das wars“ klingt nicht negativ, nicht positiv und wirkt wie aus einem Zusammenhang gerissen. Die Schrift bildet das Gegengewicht zu Heavens Leichtigkeit. Ich mag Fahnen, weil sie Anspruch auf ein Territorium erheben, jedenfalls als Geste. Das hat symbolische Schwere.
SA: Außerdem weisen Flaggen auf archaische, nonverbale Kommunikationssysteme hin – Schiffssignale etwa. Da geht es um Informationen. In Vietnam ist und war die Nationalflagge eng mit der geopolitischen Geschichte verbunden.
TAN: Die Fahne trägt die politische Ideologie des Landes, nicht nur als Zeichen des Nationalstolzes, sondern auch in Bezug auf den Krieg mit den USA. Die Farben, der gelbe Stern auf rotem Grund enthalten bis heute auch eine Botschaft der Gewalt, genauso wie die vietnamesische Nationalhymne nach wie vor einen kriegerischen Inhalt hat. Es gibt auch die allgemeine Pflicht für Bürger*innen, an Feiertagen eine Fahne an oder vor das Haus zu hängen.
HB: Als ich in Südkorea aufwuchs, herrschte noch eine Militärdiktatur. An meiner Grundschule wurden Fahnen gehisst. Da musste immer die Windrichtung beachtet werden, denn wenn sie bloß herunterhängt, ist die Fahne ja unsichtbar. Das ist auch künstlerisch spannend, weil der Wind die Form bestimmt.
TAN: Wir teilen da eine Erfahrung, Heaven, besonders auch in der Kindheit. Die demonstrative Liebe zur Heimat spielt hier schon sehr früh eine Rolle, indem Kinder bei Veranstaltungen mit Wimpeln winken. Da wird die Funktion zum Ritual. Im Kontext von „White Distance“ fallen die Farben mit ihrer nationalen Bedeutung allerdings weg, die Farbe Weiß enthält potenziell das ganze Spektrum und damit auch unseren internationalen Aktionsraum. Außer „Flags Fly“ mit Heaven und Daniel haben andere MAP-Künstler*innen die räumliche Entfernung sehr produktiv verwendet. So hat Ruchika Wason Singh von Indien aus ihr „Book of collective Healing“ (Buch der kollektiven Heilung) als klassisches Mail Art-Projekt auf den Weg gebracht oder eine schweizer und eine vietnamesische Künstlerin produzierten ein Videotagebuch.
SA: Die Ausstellung der physischen Beiträge ist im Dezember in Hanoi zu Ende gegangen, aber „White Distance“ wäre ja keine ernstzunehmende Antwort auf die Widrigkeiten von Covid, wenn es nicht parallel online stattfinden würde?!
TAN: Die 3D- Version ist so gut wie fertig, die meisten Beiträge sind bereits im Internet, unter: https://the-white-distance.art/ Noch eines zum Schluss: Nicht nur Daniel und Heaven haben ein zeitweiliges Team gebildet, sondern wir hatten ausgerechnet in diesen distanzierten Zeiten so viele künstlerische Partnerschaften wie noch nie, unter „normalen“ Bedingungen. ---
* Seit Mitte Dezember ist am Blockhaus Dresden, dem künftigen Sitz des Archivs der Avantgarden (AdA, Staatliche Kunstsammlungen Dresden) die Installation YOUSHO von Daniel Rode zu sehen.