Auf den Spuren von CDFs Metaphysik oder Wanderung durch den ukrainischen Winter
Ausgabe 1/2024
von Susanne Altmann
2024 wird im Zeichen der Romantik stehen. Wie ist das gemeint? Wird kollektiv in eine vermeintlich intakte Vergangenheit geblickt – diese verklärend, wie es schon von den romantischen Künstler*innen von Sophie Tieck bis Ludwig Richter überliefert ist? Der Engel der Geschichte schaute nämlich immer nur rückwärts, nicht erst seit Walter Benjamin das vor ca. 100 Jahren bemerkte.
Einer der notorischsten Rückwärtsblicker der Neuzeit war wohl Caspar David Friedrich (1774-1840, fortan CDF). Seinen 250. Geburtstag feiern nun Museen landauf, landab und verordnen urbi et orbi eine romantische Brille, Sehstärke 250 mindestens – obwohl sich ja schon Bertolt Brecht sicher war, mit dem romantischen Geglotze aufgeräumt zu haben. So kann Mann sich täuschen. Zum Glück, denn CDF und sein Kreis sahen sich keineswegs als weltabgewandte Schwärmer*innen. Sie suchten Lösungen für ihre eigene Gegenwart; für eine Misere, die mit der rasanten Industrialisierung anfing und mit den napoleonischen Kriegen noch lange nicht aufhörte. Sie gaben offen zu, dass sie sich die Zukunft als heiteren, friedlichen Ort nicht vorstellen konnten und beschworen intakte Landschaften und die nächtliche Glasur des Mondlichts herauf, verziert etwa mit altertümlich gekleideten Freundespaaren.
Doch während sich begabte Adepten von CDF wie Carl Gustav Carus oder Ernst Ferdinand Oehme heimelig in Retroszenarien einrichteten, warnblinken in CDFs Kompositionen stets die Zumutungen seiner, der modernen Welt auf. Ein junger, gesunder Mann blickt in einen Abgrund, dessen Ausmaße er, nebelhalber, nicht überblickt. Ein Mönch, wahrscheinlich, verschmilzt mit den Elementen und führt den niedlichen Gottesglauben ad absurdum. Ein einsamer, abgewrackter Soldat hat Napoleons katastrophalen Russlandfeldzug überlebt und stapft einem ungewissen Schicksal durch eiskalte sächsische Wälder entgegen.
CDFs Antihelden (Heldinnen gibt es nicht, auch gut.) sind -für mich zumindest- der Grund, den Meister aus Greifswald und Dresden zu verehren: Im strengen Sinne war er ja gar kein Romantiker, kein Eskapist, sondern vielmehr ein Prophet, der an der Wiederkehr des ewiggleichen Elends litt, und den auch der Blick in die Vergangenheit über die Tragödien der Zukunft nicht hinwegtäuschte.
Inzwischen schreiben wir den zweiten Kriegswinter (was für ein Wort im Jahr 2024) des russischen Totalüberfalls auf die Ukraine. Und an den Frontverläufen müssen wir uns ähnliche Anblicke vorstellen, wie sie Napoleons Größenwahn einst erzeugte. Visuelle Schützenhilfe (OMG) kommt dabei von einem Künstlerduo aus Kyiv, Yarema Malashchuk und Roman Khimei. Zunächst einmal nennen sie ihre, zwei Monate nach Kriegsanbruch gefilmte Arbeit „Der Wanderer“. Der Wanderer aus CDFs Nebelmeer-Gemälde ist hier einen Schritt zu weit gegangen: Zwischen der zivil gekleideten Rückenfigur von 1818 und den leblosen Soldatenkörpern von 2022 hat sich ein Zivilisationsbruch ereignet, einer von jener Sorte, die CDF gehen und kommen sah. Im karpathischen Kammgebiet von Sokilskiy Hrebet suchten sich Malashchuk und Himei gezielt Landschaftskonstellationen, die an den klassischen romantischen Blick erinnern. Der Nadelwald, durch den der „Chasseur“ (1814) bei CDF streift, wird durch Birkenstämme ersetzt. Ein Felsvorsprung gleicht der berühmten Steinformation des originalen „Wanderers“. Nur, dass hier jegliches Leben aus den Protagonisten gewichen ist. Malashchuk und Himei posieren, mal einzeln, mal gemeinsam als gefallene Soldaten – genauer gesagt: als tote Russen, erfasst auf Fotografien aus der ersten Phase des Krieges. Sie liegen im rötlichen Laub des Vorjahrs, auf dünnen Schneedecken, neben umgestürzten Bäumen oder eben auf Steinen – verschmelzen geradezu lapidar mit der Landschaft. Nur manchmal, wenn Hautpartien aufblitzen, die Gliedmaßen unnatürlich verdreht wirken, wird es klar, dass es nicht um Schlafende in der freien Natur geht. Wie auf seiner angestammten Klippe balanciert „Der Wanderer“ von heute zwischen dem Schrecken jener Wirklichkeit, die sich weiter östlich an der Front zuträgt und der formalen Distanz, die die Künstler herbeiführen, wenn sie die Entstehung der Bilder selbst mit einbeziehen. Da steht der eine rasch von den Toten auf, um die Kamera zu richten; der andere muss sich überzeugender positionieren.
Krieg und Romantik verbinden sich auch im nächsten Projekt von Malashchuk und Himei. Der Name des Videos liest sich wie der Titel eines Landschaftsgemäldes, angesiedelt irgendwo zwischen der Präzision von Bernardo Bellotto und dem Schmelz von Johan Christian Dahl: „Blick auf das vorübergehend besetzte linke Ufer des Bezirks Kherson“. Und ebenso unspektakulär wie die Flusslandschaft eines breiten, ruhigen Stroms wirken kann, so fließen die acht Minuten des Films vorüber. Der Fluss allerdings heißt Dnipro, nicht Elbe, und Drehort ist das Museum für Lokalgeschichte in Kherson. Die Kamera blickt aus einem zersplitterten Fenster auf das Wasser, auf bräunliche Auen und eine schemenhafte Siedlung, Drehtag ist der 12. Dezember 2022, und in einer geschützten Ecke des Raumes hocken die beiden Künstler und warten, bis das selbstverordnete Zeitfenster vorüber ist. Acht Minuten lang. Das ist beherzt. Denn das südukrainische Museum liegt nur zwei Kilometer von der aktuellen Grenze zum russisch okkupierten Gebiet entfernt. Mitte November 2022 wurde es mitsamt der Stadt zurückerobert. Es war leer, denn wenige Tage zuvor hatten die Invasoren eine strategische Plünderung veranstaltet. Die Antikensammlung von Cherson umfasste bis zu 7000 Jahre alte Objekte – Bauschmuck, Skulpturen, skythisches Gold. Bekanntermaßen gehören Attacken auf ukrainische Kulturgeschichte zum perfiden Kalkül des Angriffs. Denn nicht nur werden materielle Werte (Museumsexponate neben Waschmaschinen, Unterhaltungselektronik etc.) erbeutet, sondern auch die historische Identität des Landes diskreditiert. Erst vor kurzem wurden wiederum die Kunstmuseen von Kherson und Odessa bei Angriffen beschädigt, die Zerstörung des Theaters von Mariupol gilt als trauriges Symbol der Barbarei gegen Menschen und Kultur.
Die Videoarbeiten des Kyiver Künstlerduos wirken wie mentale Erste Hilfe in dieser unbegreiflichen Situation. Eine zweite Arbeit, die im vor über einem Jahr im Geschichtsmuseum entstand, besteht in langen Kamerafahrten durch das geleerte Haus. Langsam, fast zärtlich, bewegt sich die Optik an den Sockeln und Vitrinen entlang, die nicht nur ihre Objekte eingebüßt haben, sondern auch Spuren der rabiaten, überstürzten Entnahme zeigen. Gelegentlich sind Explosionen zu hören – draußen geht der Krieg weiter. Bald greift eine ruhige Kommentatorenstimme übergangslos in das Geschehen ein: „Auf diesen Sockel werden wir ein Architekturelement aus Marmor platzieren, das einst den klassischen Tempel schmückte... Hier, unter der Glashaube, planen wir die erneute Installation einer dreizehn Zentimeter großen, geschnitzten Vase aus Alabaster. Die Vase wurde in einem Grabhügel von Pontic Olbia gefunden und stammt aus dem sechsten Jahrhundert B.C. Und hier werden wir den Raum Nr. 10 - ‘Antike Städte der nördlichen Schwarzmeerregion’ wieder herstellen.“ Die imaginäre Rekonstruktion der geraubten Sammlung bewegt sich entlang der üblichen musealen Chronologie. Was mit Skythenhelmen und -schwertern begann, mündet schließlich in der Beschreibung von deutschen Gasmasken, sowjetischen Sturmgewehren oder Handgranaten aus dem zweiten Weltkrieg. Während der Sprecher die Kriegsorden verschiedener hoher Militärs und deren geplante Neueinrichtung aufzählt, werden die Detonationen draußen so laut, dass seine Stimme schwindet. Mit diesem traurigen Paradox schließt sich der Kreis, wiedereinmal: Museum und Echtzeitkrieg werden zu Exponaten. Malashchuk und Himei beweisen ein sicheres Gespür für die Metaphysik der Wiederholung. Das gilt sogar für ihr Atelier in Kyiv. In der Etagenwohnung, in der sie arbeiten, stehen einige Möbelstücke mit vergilbtem Biedermeiercharme. Ein wuchtiger Kleiderschrank, zwei Standuhren, eine hübsche Spiegelkommode. Grob geschätzt, dürften sie in der Zeit von CDFs Alterswerk gefertigt sein. In der Familie der Hausbesitzerin kursiert noch immer das Gerücht, so Yarema Malashchuk, diese Einrichtungsstücke seien nach dem zweiten Weltkrieg aus Dresden nach Kyiv gelangt. Als Kriegsbeute.
Mehr: https://www.yaremaandhimey.com
https://www.museumdefundatie.nl/en/kaleidoscope-of-histories/
Die Videoarbeit „Der Wanderer“ (The Wanderer) war 2023 als Teil der Ausstellung „Kaleidoskop der Geschichte(n). Kunst aus der Ukraine“ (Kuratorinnen Maria Isserlis, Tatiana Kochubinska) zunächst im Albertinum/Staatliche Kunstsammlungen Dresden zu sehen. Noch bis zum 28. Januar 2024 läuft „Kaleidoscope of (Hi)Stories. Art from Ukraine“ im Museum De Fundatie in Zwolle (NL). Für diese Ausstellungsstation erscheint der gleichnamige Katalog in englischer Sprache.
ISBN 9789462625389 | 29,95 Euro