
10.10.2018
Der Herbst steht an und es ist Zeit für eine kurze Reflexion zu zarten Tendenzen in der Stadt, die Gefahr laufen, übersehen zu werden.
Wenn der kanadische Schriftsteller Douglas Coupland in einer Reihe von Siebdrucken proklamiert, er vermisse sein Gehirn, führt er nicht direkt aus, wie er das genau meint, aber es lässt sich leicht ahnen, worum es ihm gehen könnte. Er scheint von einer tiefenwirksamen Veränderung der Synapsenverschaltungen auszugehen, die er für nicht umkehrbar hält. Das sogenannte Internet und seine Ausläufer um Social Media, Algorithmen sowie Fake News und Internet-Memes sind bis in die entlegensten Winkel der Welt allgegenwärtig geworden und zeigen zunehmend auch ihre dystopische Seite. Aus dieser Beobachtung ergeben sich nun eine Reihe von Fragen: Wie kann gerade der Mensch mit den hoch spezialisierten und komplexen Vorgängen der algorithmisierten Gegenwart mithalten? Muss das Gehirn sich reorganisieren oder tut es das bereits? Was bleibt, sobald wir den Rechenprozessen und Speicherleistungen um ein Vielfaches unterlegen sind? Wie könnte mit den beschränkten menschlichen Seh- und Merkfähigkeiten das sogenannte bigger picture, das Große und Ganze, wieder in den Blick rücken?
Bei der Begegnung mit der Gegenwart auf Augenhöhe, wie es häufig so schön gesagt wird, geht es nicht darum, behäbige Roboter oder menschenähnlich kommunizierende Social Bots zu ergründen und zu optimieren. Es geht darum, die technologische Gegenwart in ihren Wirkweisen auf die sozialen, politischen und ökonomischen Implikationen hin zu durchdringen. Doch sind wir überhaupt fähig, uns die Dimensionen dieser hochkomplexen Gegenwartsgefüge vorzustellen? Dafür braucht es wohl andere Werkzeuge, als Datensammlungen und anschaulichere Bilder als Tabellen sie liefern können. Ich will nun behaupten, dass gerade die aktuelle Kunst es vermag, diese unvorstellbaren Herausforderungen auf eigensinnige Weise wesentlich anschaulicher und erfahrbarer werden zu lassen, als es uns bewusst ist. Fakten und Daten sowie Stimmungen und Tendenzen – in Bilderserien verwandelt – zeigen etwas, das sich anders einfach nicht zwischen den Matritzen aufspüren lässt. Ausschnitt für Ausschnitt verbildlichen gerade Werke der bildenden Kunst audiovisuell wie installativ Zusammenhänge, die zwar wissenschaftlich valide textlich gefasst und teilweise auch quantifizierbar sind, aber häufig weniger zugänglich bleiben.
Die CYNETART ist nun konzeptionell ein solcher Ort, an dem die Beschäftigung mit dem Potenzial künstlerischer Gegenwartsarbeit per Medium angesiedelt ist und sein sollte. Seit 1997 findet sie jährlich einmal für ein paar Tage statt und realisiert in einer Art melting pot der medialen Affiziertheit Ausstellungen, Vorträge, Workshops, Konzerte auf Bühnen und Monitoren. Bisher war das nicht immer nur spannend oder anschaulich, und mancher hat das Interesse an der Inszenierung verloren. In diesem Jahr aber zeigt sich ein Verhandlungsansatz, der viel mehr verspricht. Unter der gewohnt eher unterkühlten, technophilen Medienkunst finden sich vermehrt auch Positionen, bei denen die Apparaturen keine vordergründige Rolle mehr spielen, sondern die unsichtbaren Infrastrukturen in den Vordergrund treten und Diskursanlässe beyond medium (also nicht transmedial, multimedial, intermedial, sondern darüber hinausgehend …) geboten werden. Mit der Preisträgerin Stacey Gillian Abe aus Uganda wird sogar eine Position vorgestellt, die sich, nicht zuletzt ob der verwendeten Materialien und Zugänge, überhaupt nicht im klassischen Feld der Medienkunst vermuten ließe. Ohne jede technische Konfrontation beschäftigt sie sich mit der gegenwärtigen Verfasstheit und Fragen der Virtualität einer zugleich geteilten und globalisierten Welt (engl. shared sowie divided), und das auf höchst materielle und physische Weise. Das lässt aufhorchen und hoffen, dass sie mit ihrem Videobeitrag »Indigo« nun tatsächlich auch eine über die Oberflächen der Apparate hinausgehende kulturelle Reflexion, wie sie die CYNETART sich selbst verschreibt, anstoßen kann.
Gespannt macht diese neue Selbstverständlichkeit zwischen durchdigitalisiertem Alltag und materieller Bewältigung der Anforderungen schon mal sehr. Und auch an anderen Stellen ergeben sich ähnlich gegenwärtige Annäherungen: In dem langfristigen, transdisziplinär angelegten Forschungsprojekt der Altana Galerie entsteht z. B. eine Reihe zur Auseinandersetzung zwischen Wissenschaft und Kunst beyond medium. Unter dem Titel »Dear Humans, …« soll sich über knapp zwei Jahre gezielt aus nicht-menschlicher und zukünftiger Perspektive mit dem Überleben der Menschheit unter Einbezug aktueller techno-sozialer Prognosen auseinandergesetzt werden. Dafür kommen Wissenschaftler*innen verschiedener Institute der TU Dresden mit internationalen Künstlerinnen zusammen und nehmen intensive Untersuchungen an sogenannten Mensch-Maschine-Interaktionen auf.
Zum Auftakt reformuliert z.B. die Künstlerin Tabita Rezaire in einer Videoarbeit des VideoAtlas zum Kooperationsprojekt die ureigene binäre Form der Informatik in eine anschauliche Erzählung. Statt unendliche Zahlenkolonnen und deren Avatare in Stellung zu bringen, erzählt sie eingängig säuselnd von Muscheln, die im Sinne einer historischen afrikanischen Weissagetechnik Prognosen über die Zukunft liefern können. Angesichts dieser Aussichten freut sich nun mein internet brain auf einen Herbst/Winter mit spannenden Fragen rund um einen noch zarten Schwerpunkt einer Kunst beyond medium, wie er sich für Dresden nur herbeisehnen lässt.