Zorka Wollny © Janek Turkowski

1/2023

Geburtstagsgeschenke

Zwei Variationen zur Großmut

von Susanne Altmann

I

Vor Jahren lud mich Henry H. Arnhold zum Tee ein. Ich mochte ihn sehr, natürlich auch weil er ein  großherziger und bedachter Förderer des Kultur- und Geisteslebens in seiner Heimatstadt Dresden war. Und schließlich war er es, der einer, ihm völlig unbekannten sächsischen Philosophiestudentin, nämlich mir, ein Stipendium an der New Yorker New School for Social Research verlieh. Dazu kam, dass Arnhold, noch bevor wir uns persönlich begegneten, über einen Mittelsmann (der keine Ahnung hatte, worum es eigentlich ging) sicherstellen ließ, dass diese junge Dame auch wirklich s ä c h s i s c h sprach. Das Sächsische war seine Muttersprache. Bis heute bewegt es mich, das Heimweh eines fünfzehnjährigen Jungen, dessen Dresdner Kindheit 1936 abrupt mit seiner Flucht aus Nazideutschland endete, in der Person eines betagten, erfolgreichen Bankiers erlebt zu haben. Viele Menschen, die ihn nur flüchtig kannten, fragten sich immer wieder, woher die schier endlose Großmut dieses Mannes kam, dessen jüdischer Familie in Deutschland so viel Leid widerfahren war. Während unserer Treffen war davon nie die Rede.

Mit einiger Selbstverständlichkeit betrat ich also den Fahrstuhl eines Gebäudes auf der Park Avenue, wo mich Henry H. im obersten Stockwerk erwartete. Ich hatte beschlossen, so wenig beeindruckt wie möglich zu wirken und hielt das auch anfangs durch, plauderte mit ihm über die (unfassbar raren) Meißner Porzellanfiguren in der Vitrine und über Bruce Chatwins Sammlerroman „Utz“. Meine Contenance sollte mich jedoch rasch verlassen: Über dem Sofa im Teezimmer hing eine der expressiven Elbansichten, die Oskar Kokoschka während seiner Dresdner Professorenzeit Anfang der 1920er Jahre gemalt hat – ein Blick aus dem maßgeschneiderten Tageslichtatelier der Kunstakademie. Während jener kurzen Jahre, bevor aus ihm ein gutbezahlter, routinierter Vedutenmaler wurde, fand der kriegs- und anderweitig verstörte Kokoschka zu einem farbsatten, extrovertierten Stil und zu sich selbst – in Dresden. Völlig sprachlos musste ich mich setzen, natürlich nicht mit dem Rücken zu diesem herrlichen Panoramabild. Der Gastgeber verstand meine begeisterte Sprachlosigkeit sofort und begann von seinem Vater Heinrich zu erzählen, von der Tradition des Schenkens im Hause Arnhold: Zu Geburtstagen waren es nicht die Jubilar*innen, die große Geschenke erhielten. Vielmehr pflegte das Geburtstagskind selbst die Familie zu beschenken. So stellte sich das Kokoschka-Werk als Gabe von Heinrich Arnhold an seinen jüngsten Sohn Heinrich-Hartmut (Henry) heraus. Das eigene Jubiläum wurde so mit einer Anleitung zur Großmut gefeiert.

II

Genau daran musste ich denken, als im Oktober 2022 die polnische Künstlerin Zorka Wollny einen Preis erhielt. Einen mit zehntausend Euro dotierten Preis, von dessen Existenz bislang noch niemand gehört hatte. Wie auch, handelt es sich doch um ein erst- und einmaliges Geschenk, mit dem die Stiftung Kunst und Musik für Dresden ihr zehntes Jubiläum feiert. Nun steht Großmut bereits in den Statuten eines solchen Fördergremiums und angesichts der Fülle von bislang unterstützten Projekten und Künstler*innen lag hier auch keinerlei Profilierungsbedarf vor. Im Gegenteil, allein das Stipendienprogramm der Stiftung (seit 2015) holt fast alljährlich eine*n Bild- oder Tonkünstler*in nach Dresden, die hier ein paar kreative Monate verbringen, um sich dann – wenn alles nach Plan läuft – mit Aufführungen oder Ausstellungen öffentlich vorzustellen. 

Wer erinnerte sich nicht an die grandiose Installation von Fernando
Sánchez Castillo, die der spanische Stipendiat dem Mosaikensaal des Albertinums verordnete? Unter dem Titel „Made in China“ richtete er 5000 identische Spielzeugfiguren, offensichtliche Massenware, zu einem geradezu militärisch korrekten Block aus. Der tarngrüne Schein trog gleich mehrfach, weder ging es um Kinderzimmerkriegsspiel noch um Konsumkritik, auch wenn die replizierte Männergestalt eine Einkaufstüte hielt. Vielmehr stellte der „Tank Man“ jenen mutigen Einzelkämpfer dar, der sich während der Studentenrevolten 1989 in Peking einem Panzer entgegengestellt hatte; einen Held, über dessen Schicksal bis heute nichts bekannt ist und dessen Foto in China nach wie vor zensiert wird. Es ging um die sozusagen dialektische Macht der Ohnmacht, die im Flüchtlingsjahr 2015 auch in Deutschland fühlbar wurde. Und weil sich Sánchez Castillos Intervention mit einer durchdachten Partizipationsgeste selbst aufbrauchte, haben viele der damaligen Besucher*innen noch immer einen „Tank Man“ zu Hause stehen, das kleinste Monument einer großen Sache. Mit vergleichbarer Eindringlichkeit geht Fatma Bucak vor, 2020 von der Stiftung Kunst und Musik  für einen Dresdenaufenthalt ausgewählt. Als mittelbares Resultat davon präsentierte sie von Juni bis Oktober 2022 im Kunsthaus ihre Arbeiten unter dem Titel „While the Dust Quickly Falls“ (Während der Staub rasch fällt). Eine Intarsie aus den angekohlten Holzresten von Waldbränden, eine imaginäre Landschaft mit den Blüten der Golanhöhen oder eine eigene Zucht von bedrohten syrischen Damaszenerrosen: Fatma Bucak findet für den Zustand der Welt zwischen Langzeitkriegen, Anthropozän und Klimakrise immer wieder schmerzliche und zugleich zärtliche Bilder. Ihre Dresdner Soloschau war die erste in Deutschland überhaupt, und auch dafür wäre der Stiftung und der betreffenden Jury zu danken. 

Dabei ist es gar nicht so einfach, sich überhaupt um das Stipendium zu bewerben – Vorschläge kommen ausschließlich von den Beiratsmitgliedern. Ein gewisses Niveau wird dadurch bereits garantiert, zumindest so die Absicht der Stiftung. Ein Blick auf die Jurorenliste für den Jubiläumspreis, der ebenso wie die Stipendien entlang von Juryvorschlägen organisiert war, zeigt die kluge Taktik: Neben den Musikern Jan Vogler und Sven Helbig nahmen auch die beiden Medienkünstler Matthew McGinity und Carsten Nicolai am Prozedere teil. „Schließlich mussten wir“, so Stiftungsvorstand Martina de Maizière: „als Förderer von zeitgenössischer Kunst und Musik einen ziemlichen Spagat hinkriegen. Ein*e Preisträger*in sollte beide Aspekte vereinen und zudem noch einen gewissen Bezug zur Stadt haben.“ Aus einem Line-up von sieben Kandidatinnen wurde dann Zorka Wollny gekürt – die rein gar nichts von ihrer Nominierung ahnte. Mit ihrer entschlossenen politischen Haltung passt die 1980 in Krakau geborene Künstlerin allerdings exzellent in das Portfolio der Stiftung. Wie Bucak und Sánchez Castillo vertritt sie eine neue Riege von Kunstschaffenden, denen eine markante ästhetische Form, sei es in Bild, Performance oder Klang, genauso wichtig ist wie eine engagierte Aussage. Dieses Ringen um Inhalt u n d Form macht viel Mühe, und nicht jede*r Künstler*in, die einen öffentlichen Umzug zur kritischen Demonstration erklären, liefern auch gleich ein Kunstwerk ab. Mit ihren Soundperformances für variable Chöre widmet sich Zorka Wollny einer besonders komplizierten, intermedialen Ausdrucksform und bekennt: „Ich träumte von einer sozialen Plattform, die mit musikalischen Mitteln operiert…Ich suchte nach einer Form, die nicht ausschließt, sondern integriert; eine, die auch die unvollkommenen, schwachen Stimmen und Disharmonien mit einbezieht.“ In Dresden waren im Herbst ihr „Imperfect Choir“ (etwa: Unvollkommener Chor) live zu erleben sowie als Video das „Polyphonic Manifesto“, aufgeführt 2019 im Warschauer Stadtraum mit dem Chor des jüdischen Museums Polin. Das „Vielstimmige Manifest“ stellt eine basisdemokratische Abrechnung mit den aktuellen Zumutungen im Polen der regierenden PiS-Partei dar, ist jedoch – dank der Vehemenz und Unterschiedlichkeit der Sänger*innen – eine geradezu universelle Reaktion auf gesellschaftliche Zwänge per se. Dresden wird sehr bald wieder Zorka Wollny hören, ihr Soloauftritt im Kunsthaus steht bevor. Das Preisgeld könnte dabei die eine oder andere künstlerische Lösung positiv forcieren. Auf alle Fälle ist es genug, um einer couragierten Künstlerin, die sich weitgehend auf unverkäufliche, immaterielle Werke einlässt, für eine gewisse Zeit eine gewisse Sicherheit zu geben. Jedes Jahr des Bestehens der Stiftung Kunst und Musik mit eintausend Euro veranschlagt, summierte sich das Geburtstagsgeschenk auf – wie gesagt – zehntausend Euro. 

Ach, übrigens: Das sind genau 3.000 mehr als die weltbekannte Kunst- und Kulturstadt Dresden alljährlich für ihren Kunstpreis ausreicht. (Ironie aus) Ein runder Stadtgeburtstag steht leider erst wieder im Jahre 2106 an (oder 2056, mit etwas gutem Willen). Doch es müssen ja auch nicht gleich tausend Euro pro Existenzjahr sein, genausowenig wie ein Jubiläum nötig wäre: Der Wille zur Großmut entlang erprobter Modelle (s.o.) würde schon reichen.         

www.kunst-musik-dresden.de | www.zorkawollny.net